Artist-in-Residence: Interview mit Natasha Tontey
Artist-in-Residence: Interview mit Natasha Tontey
Natasha Tontey (Yogyakarta) ist Künstlerin und Grafikdesignerin und derzeit Teil des transmediale Artist-in-Residence-Programms. In ihrer Arbeit verwendet sie Fiktion als eine Methode spekulativen Denkens und geht der Frage nach, wie Angst, Horror und Terror dafür instrumentalisiert werden können die Öffentlichkeit zu kontrollieren. In ihrer neuen Videoarbeit The Epoch of Mapalucene erforscht Tontey die Dynamik der Minahasa-Weltanschauung aus der Perspektive der digitalen Kultur heraus und hinterfragt ihr Potential sich eine alternative Gesellschaft vorzustellen, in der die belebte und unbelebte Welt durch das Prinzip von Gegenseitigkeit zusammengebracht werden. Die Minahasa, eine in der indonesischen Provinz Nordsulawesi gelegene Gemeinschaft, ist nach der Gabenwirtschaft des Mapalus organisiert, die auf Freiwilligkeit, Verwandtschaft mit der Natur und gegenseitiger Hilfe basiert. The Epoch of Mapalucene wurde im Auftrag der transmediale und mit Unterstützung der Martin Roth-Initiative produziert und wird erstmals in der Ausstellung der transmediale 2021–22 zu sehen sein.
TM: Mythos, Spekulation, Angst und Ritual sind wiederkehrende Themen in deinen Arbeiten. Wie zeigt sich das in deinem aktuellen Projekt, an dem du im Rahmen der Residency arbeitest?
NT: Eigentlich hatte ich die Idee, den Pinawetengan-Steinpakt ins Zentrum des Projekts zu stellen. Dabei handelt es sich um eine indigene Praxis der Minahasa, einer ethnischen Gruppe aus Nordsulawesi, bei der die Menschen eine Verbindung mit nichtmenschlichen Entitäten aufbauen. Als ich jedoch genauer darüber nachdachte, wurde mir klar, dass es dabei um mehr geht als nur eine Verbindung zwischen belebter und unbelebter Welt: Der Stein bestimmt die für die Minahasa wichtige Praxis der gemeinsamen Nutzung von Land. Erstaunlicherweise spricht darüber heute jedoch kaum jemand mehr. Ich wollte dieses uralte Wissen über die kulturellen Praktiken und die Mythologie der Minahasa unbedingt vertiefen, auch um meine eigene Position als diasporische Minahasa zu überdenken. Zwar bin ich mit vielem davon seit meiner Kindheit vertraut; ich habe dem allerdings nie wirklich Aufmerksamkeit geschenkt. Als ich den Pinawetengan-Stein besuchte, einem Steinritual beiwohnte und an weiteren Ahnenritualen teilnahm, war mir bewusst, dass diese Praxis von vielen als Ketzerei missverstanden wird; als eine uralte Praxis, die es in der ‚modernen‘ Welt nicht mehr geben sollte. Was macht sie bedrohlich für die christliche Mehrheit in Nordsulawesi, die zugleich eine der größten christlichen Gemeinschaften im mehrheitlich islamischen Indonesien ist? Ich habe den Eindruck gewonnen, dass historische Artefakte wie dieses im Volksglauben als Tabu konstruiert wurden, was schließlich die Marginalisierung der indigenen Bevölkerung dieser Region zusätzlich verstärkte. In meinem Residency-Projekt versuche ich, eine andere Sichtweise auf das Ritual zu entwickeln, indem ich den Zusammenhang zwischen der Realität kontrollierenden Autorität, der Konstruktion von Geschichte und dem Widerstand der indigenen Gemeinschaft betrachte.
TM: Kannst du etwas mehr über die zentrale Rolle des Steins innerhalb des kosmologischen und politischen Systems der Minahasa erzählen und wie dies deine Arbeit inspiriert?
NT: Je tiefer ich in die Kosmologie der Minahasa eintauchte, desto mehr stellte ich fest, dass ihre Geschichte alles andere als heteronormativ und darwinistisch ist. Das zeigt sich zum Beispiel darin, wie sie Steine behandeln. Gleichzeitg haben die Minahasa auch Erfahrungen der kolonialen Unterdrückung gemacht und so kreuzen sich auch viele dieser kosmologischen Gedanken mit moderneren Ansätzen. Anfangs wurde der Stein als Wissensquelle betrachtet, weil er für die Teilung von Land steht und so ein politisches System für die Minahasa schafft. In der Zeit des niederländischen Kolonialismus dagegen wurde der Besitz von Land als Wertfaktor angesehen – ähnlich wie die Arbeitskraft den Wert einer Person bestimmte. Diese Verstrickung von kosmologischem und modernem Wissen ist etwas, das ich in meiner Arbeit erforschen will.
TM: Als soziale Währung bildet Mapalus die Grundlage der Gabenwirtschaft der Minahasa, wonach Transaktionen auf Vertrauen und Gegenseitigkeit beruhen. Was verkörpert das Konzept von Mapalus deiner Meinung nach und welche sozio-ökonomischen Alternativen bietet es?
NT: Interessanterweise gibt es in Indonesien als Nationalstaat mit 633 anerkannten ethnischen Gruppen viele ähnliche Konzepte zu dem von Mapalus. Dennoch nutzt die indonesische Regierung das Javanische Konzept von Gegenseitigkeit, gotong royong, als ihre staatstragende Philosophie. Mapalus unterscheidet sich insofern von gotong royong, als dass es nicht zwingend auf der Verpflichtung zur Gegenseitigkeit beruht. In der subethnischen Gruppe der Toulour gibt es beispielsweise die Kultur von Tamber, die theoretisch ein Teil der Mapalus-Kosmologie ist. Das ökonomische Prinzip von Tamber bezieht sich auf jegliche altruistische Aktivitäten, bei denen jemand etwas gibt ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Das Volk der Toulour sieht Tamber als Form des absoluten Mapalus. Obwohl Mapalus also in gewisser Weise ein Konzept gegenseitiger Hilfe ist, verstehen es einige subethnische Gruppen als etwas Größeres – als einen Akt wahrer Gabe. Dieser Umstand macht meiner Meinung nach Mapalus zu einer echten Alternative zu unserem derzeitigen Wirtschaftssystem, das hauptsächlich auf Extraktion und Akkumulation beruht. Zusätzlich zeigt uns die indigene Praxis der Minahasa, dass der Zugang zu Lebensmitteln nicht primär durch Besitz, Eigentum oder Geld bestimmt wird, sondern dadurch, wie Menschen mit ihrer Umgebung, innerhalb ihrer Beziehungen und mit der Natur interagieren und kommunizieren.
TM: Dein Projekt für die transmediale wird eine Videoinstallation sein, in der 3D-Animationen auf Steinskulpturen und das Element Wasser treffen. Die Skulpturen repräsentieren Karema und Lumimuut – eine Göttin und deren Tochter aus der Minahasa-Mythologie. In der Installation veränderst du die traditionelle hierarchische Ordnung und rückst Karema und Lumimuut in den Vordergrund. Wie kam es zu dieser Neuordnung und was weiß man noch über diese Figuren?
NT: Dem Volksglauben zufolge war der erste Mensch in Minahasa die Göttin Karema, die ihre Tochter Lumimuut durch einen Stein gebar. Auf Karemas Wunsch nach Nachkommenschaft nahm Lumimuut an einer Zeremonie teil und wurde schwanger mit einem Jungen namens Toar. Durch die Machtverschiebung von Walian (weiblich) zu Tonaas (männlich) um das sechste bis siebte Jahrhundert und durch koloniale Einflüsse gewann Männlichkeit in der Minahasa-Kultur an Macht, was sich insbesondere in ihrer Verherrlichung von Krieg und Kriegern zeigte. Infolgedessen ist Toar in der Tradition der Minahasa meist bekannter und wird stärker verehrt als Karema und Lumimuut, die eine untergeordnete Position einnehmen. Mit meiner Arbeit möchte ich dazu einladen, diese Neuordnung zu überdenken.
TM: Deine Videoarbeit zeigt eine 3D-Animation von Karema als Kriegerin, die ein Ritual mit einem Schwert vollzieht. Dazwischen sind Aufnahmen der Minahasa während eines Rituals mit einer der Skulpturen aus der Installation zu sehen. Welche Bedeutung haben diese Rituale innerhalb der Minahasa-Kultur und welche in deinen Arbeiten?
NT: Ich bin besonders daran interessiert, die Beziehung zwischen Geschlechterrollen und Ahnenwissen zu untersuchen. Das heilige Ritual wird von Waraney, was mit Ritter oder Krieger übersetzt werden kann, während des Kawasaran-Tanzes durchgeführt. Im heutigen Minahasa wird dieser Tanz selten von Frauen ausgeführt. Obwohl „Kawasaran“ aus etymologischer Sicht so viel bedeutet wie den Reis zu beschützen, und somit für das Konzept von Fürsorge steht, wirkt der Tanz mit seiner kriegerischen Ästhetik ziemlich männlich. Diese Aspekte sind immer noch sehr wichtig und bedeutsam im Hinblick auf die Identität der Minahasa. Zum einen konnte ich kaum Kawasaran-Tänzerinnen finden, zum anderen begegnete ich, als ich selbst Rituale durchführte, vielen Fragen zu meiner Rolle als Frau. An dieser heteronormativen Perspektive sehen wir, wie das Wissen der Vorfahren, Modernität und koloniales Erbe miteinander verwoben sind. Die Geschichte und das Ritual meiner Arbeit stellen die indigenen Völker der Region, die Landhoheit und die Art und Weise, wie das Volk der Minahasa das Konzept von Mapalus praktiziert, in den Mittelpunkt.
TM: Vor dem Hintergrund der Kolonialisierung und Assimilationspolitik der letzten 200 Jahre haben viele indigene Gemeinschaften wie die Minahasa erlebt, wie ihre Kultur und die mythologischen Verbindungen zu ihrem Land immer mehr in die Bedeutungslosigkeit gedrängt wurden. Regierungsvorhaben, das kollektive indonesische Archipel als eine generische Gemeinschaft zu verwalten, wurden von den Minahasa scharf kritisiert. Was bedeutet politischer Aktivismus für die Minahasa? Und wie lässt sich die Verweigerung einer solchen Staatspolitik mit der Lebensweise der Minahasa vereinbaren?
NT: Das politische Spektrum in Minahasa variiert stark: von Menschen, die die Religion des kolonialen Erbes entgegen des indigenen Glaubens praktizieren, über Liberale, die immer einen Weg finden, die Natur zu beherrschen, bis hin zur indigenen Gemeinschaft, die einfach nur versucht, das Land zu schützen und das Wissen der Vorfahren zu bewahren. Diskriminierung gegenüber der indigenen Gemeinschaft zeigt sich darin, dass sie als eine primitive Gesellschaft abgestempelt wird, die mit dem sogenannten Fortschritt der modernen Welt nicht mithalten kann. Diese Spannung wird auch durch das offiziell propagierte indonesische Nationalgefühl genährt, wonach alle indonesischen Bürger*innen dieselben kulturellen Wurzeln teilen. Hinzu kommt, dass Indonesien seit seiner Unabhängigkeit als Nationalstaat stark zentralisiert ist; Java ist das wirtschaftliche Zentrum Indonesiens. Daher lehnen viele Minahasa die Idee des Zentralstaates ab und sehen in Mapalus eine Möglichkeit, um ihre Idee von Dezentralisierung aufrechtzuerhalten. Das reflektiert auch der derzeitige politische Aktivismus, der in Minahasa aufkeimt und sich auf die Ablehnung der Landpolitik und die Dringlichkeit der indigenen Gesetze fokussiert, nämlich der Natur Rechte zu geben und ihr damit Respekt zu zollen.
TM: Fiktion und Spekulation sind mächtige Werkzeuge, die uns erlauben, sich neue Welten vorzustellen und diese Visionen letztendlich auch zu verwirklichen. Auf der anderen Seite bergen diese künstlerischen Strategien manchmal das Risiko von Zynismus, Loslösung und Desinformation. Wie reagierst du auf solche möglichen Irrtümer innerhalb deiner künstlerischen Praxis?
NT: Der Dialog zwischen dem*der spekulierenden Künstler*in und der Gemeinschaft und das Eintauchen in die Welt dieser erscheint mir essenziell und für das Gelingen notwendig. In meinem Fall habe ich eine starke Verbindung zur indigenen Gemeinschaft der Minahasa in Nordsulawesi aufgebaut. Ich habe ihnen von meiner Idee erzählt, die Minahasa-Kosmologie als Alternative zum derzeitigen politischen und wirtschaftlichen System Indonesiens in den Fokus zu rücken. Es ist mir besonders wichtig, kritisch und reflektiert mit diesem Lernprozess zur komplexen Dynamik der Geschichte und Kosmologie der Minahasa umzugehen. Meine Spekulationen bauen auf genau dieser kritischen Ansicht auf, die ich auch mit der Gemeinschaft teile, diskutiere und gemeinsam überprüfe. Natürlich bleibt ein gewisses Risiko, aber ich denke, dass Fiktion, sollte sie irgendwann auch als Desinformation angesehen werden, einen wichtigen Diskurs und Dialog anregen kann. The Epoche of Mapalucene erweitert die Idee von Mapalus als Gegenentwurf zu dieser epochalen existenziellen Gefahr, mit der ich unsere Gesellschaft derzeit konfrontiert sehe.
TM: Die meisten deiner Arbeiten leiten sich von Fragen ab, die gegenwärtige Lebensweisen anfechten, insbesondere in Bezug auf Technologie, die menschliche Natur und die Zukunft. Woher kommt diese Ablehnung des Anthropozentrismus und wie können die Beziehung zur Erde und ihren Gesteinen aus Sicht der Minahasa-Kosmologie alternative Welten und neue auf Reziprozität beruhende Lebensweisen eröffnen?
NT: Die Beschäftigung mit der Minahasa-Kosmologie hat mein Bewusstsein dafür geschärft, dass es viele Wege gibt, über das Leben und alternative Welten abseits des heutigen Anthropozentrismus nachzudenken. Der Stein in der Minahasa-Kosmologie dient nicht nur der menschlichen Nutzbarmachung zur Entwicklung von Technologien, sondern ist vielmehr ein Objekt, das selbst Leben spendet. Steine schaffen Platz für die Existenz von Moos, und Moos dient anderen Lebewesen als Nahrung – was schließlich zur menschlichen Existenz und der Erde als Ganzes führt. Diese Kettenreaktion ist wichtig in der Minahasa-Kosmologie; dies zeigt sich auch in der Kosmonogie der Minahasa und in der Geburt Lumimuuts durch einen Stein. Der Stein steht als Symbol für die Teilung des Landes – und Land als Teil des Lebenskreislaufs zu sehen, führt schließlich wieder zu der Vorstellung von Mapalus und dem Konzept von Gegenseitigkeit. Das Land gehört niemandem, aber jeder kann etwas darauf anbauen. Der Stein ermöglicht eine Berechnung des Raumes, indem er das Land auf der Basis verschiedener Ernteerträge aufteilt. Dies ist die Grundlage des Mapalus-Systems. Daher wird der Stein als Entität verstanden, als etwas, das schon vor der Existenz des Menschen da war, und im Zentrum der Minahasa-Kosmologie steht. Das stellt letztendlich die Art und Weise, wie wir über Materie denken, komplett infrage: Wir sollten Materie nicht nur als etwas ansehen, das wir uns zunutze machen können. Sie trägt auch soziales Leben in sich.