Einleitung: Die Münze einschmelzen

Editorial
17.12.2017

Einleitung: Die Münze einschmelzen

Eine Woche nachdem er im Januar 2017 als Präsident vereidigt worden war, unterzeichnete Donald Trump seinen fünften Exekutiverlass. Der Text enthielt die Zielsetzung, „die Nation vor der Einreise ausländischer Terroristen in die USA zu schützen“. Diese Anordnung verbot Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern die Einreise und wurde in den Medien schnell als „Muslim Ban“ bezeichnet. Dagegen wurde umgehend gerichtlich vorgegangen. In Anbetracht von Trumps antimuslimischen Aussagen während seiner Wahlkampagne erschien der Erlass vielen als nahezu unverhohlene Religionsdiskriminierung: Die Logik, nach der die Einreise verweigert wurde, wurde eindeutig religiös und nicht national begründet (letzteres wäre verfassungsmäßig, ersteres nicht).

In Reaktion auf den rechtlich erhobenen Einspruch erließ Trump eine zweite, überarbeitete Fassung. Diesmal wurde die Staatsangehörigkeit der von der Einreise Verbannten stärker betont als ihre religiösen Ansichten. In Erklärungen und Tweets vor der Wahl hatte Trump eben jenes Vorgehen angekündigt, das er nach seinem Amtsantritt umsetzte. Er hatte nahegelegt, dass er Muslim_innen verbieten werde, in die USA einzureisen – und dass er den Plan im Sinne von nationaler Zugehörigkeit umformulieren werde, sollte dies nicht funktionieren.1

Infolge der zweiten Anordnung legte ein Verbund von Organisationen, darunter das International Refugee Assistance Project, Rechtsmittel gegen die Trump-Regierung ein. In einer gemeinsamen Erklärung, die dem Berufungsgericht des vierten Bundesbezirks vorgetragen wurde, untersuchten die Klageparteien ausführlich Trumps Handlungen vor seinem Amtsantritt und argumentierten, dass seine vor der Präsidentschaft formulierte Absicht – Muslim_innen nicht ins Land zu lassen – wohl auch seiner Absicht entspreche, wenn er einmal an der Macht ist. Um den Exekutiverlass aufrechtzuerhalten, so die Klageparteien, müsse die Regierung beweisen, dass die hier „angefochtene Maßnahme offensichtlich rechtmäßig und treugläubig ist“ – sie argumentierten, dies sei nicht der Fall.2

„Offensichtlich rechtmäßig“ bedeutet, dass „die angefochtene Maßnahme klar ersichtlich auf einem rechtskräftigen Grund basieren muss“. Anders gesagt: Die Begründung des Erlasses muss rechtens sein. Hingegen bezieht sich „treugläubig [bona fide]“ nicht auf die Gültigkeit der Formulierung der Maßnahme, sondern auf die Gültigkeit von „Treu und Glauben“ hinter der Formulierung. Um ersteres zu belegen, muss man nur zeigen, dass die ausdrückliche Begründung des Erlasses (in diesem Fall der Schutz der Nation vor staatlich unterstütztem Terrorismus) gesetzmäßig ist. Zweiteres zu belegen, erfordert den Nachweis, dass die Absicht der Anordnung tatsächlich dieser Aussage entspricht. Eine offensichtlich rechtmäßige Erklärung kann eine Lüge sein, sofern es eine gute Lüge ist; eine treugläubige Erklärung muss der Wahrheit entsprechen.

Obwohl es sich hier um eine wesentliche juristische Unterscheidung handelt, scheint sie im breiteren politischen Diskurs beinahe nichtig zu sein. Mit dem Anbruch Trump'scher Politik hat die offensichtliche Rechtmäßigkeit die Bühne übernommen. Solange eine Aussage rechtmäßig ist, so scheinen Kommentierende anzunehmen, ist sie wahrscheinlich auch wahrhaft. Er meint, was er sagt. Er sagt, was er meint. So entsteht eine Tautologie, die sich jeder Argumentation widersetzt.

Gegner_innen dieser Art von Rhetorik, die Trump sich zu eigen macht, kämpfen weiter dagegen an, indem sie darauf beharren, dass solche Erklärungen nicht treugläubig sind – dass sie unwahrhaft sind. Doch das macht keinen Unterschied für jene, denen es nur um offensichtliche Rechtmäßigkeit geht. Authentizität ist zu einer oberflächlichen Behauptung geworden – erörtert Faisal Devji in seinem Essay in diesem Journal unter dem Titel „Leben an der Oberfläche“. In Devjis Worten ist Trumps politische Persona durch „die Abwesenheit jeglicher Tiefe“ bestimmt. Seine Statements werden bis zum Überdruss wiederholt. Dies erscheint als einzige Methode, um die Aufrichtigkeit der Erklärungen zu beweisen. In einer Kultur, die alles für bare Münze nimmt, wird es nie ein angemessenes Argument gegen das Lügen geben.

Hieraus folgt eine Beschäftigung nicht nur mit der offensichtlichen Rechtmäßigkeit von Aussagen, sondern auch mit dem Gesicht, das sie trifft. Wie die „Authentifizierung“ von Rhetorik erlangt die Authentifizierung von Identität obersten Wert. In ihrem Beitrag erklären Boaz Levin und Vera Tollman, wie Identität durch Fortschritte in der Biometrik immer stärker zur Ware gemacht wird: von Situationen, in denen geflüchtete Menschen gezwungen sind, sich der digitalisierten Identitätsfeststellung zu unterwerfen, um Zugang zu öffentlichen Unterstützungssystemen zu erhalten, bis hin zu scheinbar banalen Szenarien wie der Iriserkennung durch Smartphones.

Levin und Tollman schreiben: „Geld ist schon lange mit Gesichtern verknüpft“ – ganz buchstäblich durch die in Münzen geprägten Porträts herrschender Köpfe. Man fragt sich, ob Gesichter selbst obersten Wert als Währung einnehmen werden, insbesondere da das identitätsbasierte Kaufverhalten von Konsument_innen zur Informationsware wird. Stefan Heidenreich legt in seinem jüngsten Buch über die „non-monetäre Ökonomie“ (Merve Verlag 2017) nahe, dass wir in eine neue Phase eintreten, in der die Weltwirtschaft womöglich gar nicht mehr auf Währungen basiert. Die technologische Infrastruktur stehe schon bereit, so argumentiert er, um ein Tauschsystem zu unterstützen, dass nicht von einer zentralisierten Währung oder von einem Geldwert vermittelt werden muss – und wir befinden uns wahrscheinlich in einer ersten Medienphase dieses Wandels.

In Stewart Homes Kurzgeschichte „Das Blockchain-Massaker in Cripplegate“ verliert ein empfindungsloser, kapital-besessener, psychotischer Kryptowährungsinvestor jeglichen Anflug von Verantwortlichkeit gegenüber der Menschheit, als seine virtuellen Anlagengeschäfte einen Sturzflug hinlegen. In dieser Fabel scheint die totale Abstraktion von Wert zu einer totalen Abstraktion von moralischen Werten geführt zu haben. Einen Schlüssel zur Psyche dieser Figur finden wir womöglich in Ana Teixeira Pintos Essay über Ironie und Paranoia im Online-Verhalten der extremen Rechten. Die Architektur des Internets habe in weiten Teilen zugleich Gefühle der enormen Macht und der extremen Verwundbarkeit gefördert und so eine Art von Fatalismus geschaffen, die nur zum Verhängnis werden könne.

Doch der Tod ist nicht das Ende: Unsere Avatare und KI-Geister leben weiter. Mit seinem Video Geomancer, das im Rahmen des CTM Festivals 2018 gezeigt wird, bietet Lawrence Lek einen Einblick ins Jenseits. Eine Edition in dieser Publikation enthält neben Standbildern auch einen Auszug aus dem Drehbuch. In dem Szenenausschnitt nimmt die Protagonist_in an einer Führung durch ein zukünftiges Museum in Singapur teil: „ein Raum, der dem Opfer und der Wiederbelebung von Kultur gewidmet ist“. Unsterbliche künstliche Intelligenzen diskutieren darüber, was authentische, von Identität losgelöste Schöpfung in einem Zeitalter nach der menschenzentrierten Gesellschaft bedeuten könnte.

Das Journal zur transmediale wird seit 2015 regelmäßig online publiziert. Zur transmediale 2018 face value erscheint nun die erste gedruckte Ausgabe. Sie versammelt neue Ansätze, Wert zu verstehen, jenseits von oberflächlichen Behauptungen. Wenn unverblümte Heuchelei zur Norm im breiteren öffentlichen Leben geworden ist, dann sind Wahrheit und Lüge miteinander verknüpft wie die zwei Seiten derselben Medaille – einer Münze, die zum Fetisch geworden ist. Die Münze zu werfen, wird nicht dabei helfen, die Beschaffenheit ihres Wertes zu klären, sondern bloß immer wieder ihre Gesichter und Oberflächen zeigen. Die hier versammelten Texte sind Versuche, die Münze einzuschmelzen: sie alchemistisch umzuwandeln, um etwas zu finden oder zu erschaffen, das von höherem Wert ist.

Übersetzung aus dem Englischen von Jen Theodor. 

Diese Einleitung ist in der gedruckten Version der Face Value-Ausgabe erschienen und wurde von der Redakteurin des transmediale-Journals, Elvia Wilk, verfasst.

share

Print Friendly, PDF & Email