Es gibt Worte und Welten, die wahrhaft und wahr sind
Es gibt Worte und Welten, die wahrhaft und wahr sind
Ein roter Weg, ein schwarzer Himmel
Am 23. August 2019 geschah ein Unfall auf der Rodovia Presidente Dutra, einer von Rio de Janeiros wichtigsten Bundesautobahnen. Auf einem Abschnitt, der den Vorstadtbezirk Nova Iguaçu durchschneidet, wurde ein Frachtlastwagen mit Pestiziden von einem anderen Fahrzeug gerammt. Fässer rollten heraus und hinterließen ihren Inhalt – eine helle pink-rote Flüssigkeit – überall entlang der Straße; die Reifen anderer Autos verteilten sie noch über Hunderte von Metern auf dem Asphalt. Die Autobahn wurde zeitweilig gesperrt, um die Flüssigkeit zu entfernen, die als schädlich für Menschen erachtet wird. RJTV, das beliebteste Mittagsnachrichtenprogramm der Region, zeigte Bildaufnahmen von Arbeiter*innen in Schutzanzügen, die unter der fröhlichen Überschrift „Bunte Dutra“ die getrockneten Rückstände der Substanz in große weiße Säcke schaufelten.1 Die genaue Beschaffenheit des Pestizids sowie der Name des Unternehmens oder der Unternehmen, die für dessen Herstellung und Transport verantwortlich waren, blieben unerwähnt. Der nachfolgende Stau verlangsamte kilometerweit den Verkehrsfluss von der Stadt in die Peripherie.
Vier Tage zuvor, am 19. August 2019 gegen 15 Uhr, verlor der Tag in São Paulo plötzlich sein Licht. Der Himmel über der Metropole, der so oft von Regenwolken verdunkelt wird, färbte sich ungewöhnlich schwarz-braun; ein rußiger Vorhang spannte sich eilig über die verblüfften Bewohner*innen. Später an jenem Nachmittag entließen diese dicken Wolken schließlich ihre Fracht: einen heftigen schwarzen Regen, der stark und unerwartet nach Rauch roch.2 Der Grund für diesen dunklen Regen war nicht schwer zu erraten: Die Feuer, die den Amazonas-Regenwald in Brasiliens nördlichsten Bundesstaaten verschlangen, waren seit einer Weile Thema in den Nachrichten. Dies war nur eine Nachwirkung, die – von einem kalten Wind geschoben – schließlich die größte und reichste Stadt des Landes erreichte. São Paulos Fluss Tietê – einst ein sauberes, lebendiges Gewässer – war schon lange zu einer schlammigen, übel riechenden Masse gemacht worden; nun war der Himmel an der Reihe, unterzugehen.
Regenwälder brennen nicht spontan; sie müssen absichtlich in Brand gesetzt werden. Im Juli 2019 berichtete INPE (Brasiliens nationales Institut für Weltraumforschung) von einer, verglichen mit demselben Zeitraum im Vorjahr, 88-prozentigen Steigerung an Flächenbränden im Amazonasbecken.3 Über Jahrhunderte vor diesem Sommer hatten Wälder den Großteil der tropischen Regionen Südamerikas bedeckt. Die Feuer, die dem schwarzen Regen, dem frühzeitigen Anbruch der Dunkelheit und den verschütteten Pestiziden vorausgingen, haben eigentlich schon seit der ersten Ankunft europäischer Schiffe an den Küsten des Kontinents alles in ihrem Weg verschlungen. Diese Ereignisse waren Teil einer alten Tragödie, einer lange schwärenden Wunde. Verschlingen und verdauen, bis nichts mehr übrig ist – diese Praktiken sind durch die Geschichte der Kolonialität bis in die Gegenwart miteinander verwoben: von den Nahrungsmitteln, die aus den Amerikas geholt und gierigen Europäer*innen serviert werden; über die unersättliche Verzehrung lebendiger Schwarzer und Brauner Körper am Tisch der kolonialen Ökonomie; bis zum räuberischen Verschlingen der Erde selbst im Streben nach endlosem Wirtschaftswachstum. Es geht also um Gier, die unausweichlich zur Zerstörung führt; um Habgier, die auf einer enorm ungleichen Verteilung der Bedingungen für Wohlbefinden beruht.
Diese Gefräßigkeit unterstreicht die Rhetorik der Ausbeutung menschlicher und nichtmenschlicher Wesen als Wurzel der aktuellen Klimakrise; eine Gier, die nicht nur Wälder, Täler, Seen und Meere, sondern auch manche Menschen als ‚Rohstoffe‘ einordnet. In seinem Buch Ideias para adiar o fim do mundo (Ideen, um das Ende der Welt zu verschieben) schreibt der Indigene Autor und Aktivist Ailton Krenak: „Wenn wir dem Fluss oder dem Berg seine Persönlichkeit absprechen, wenn wir ihre Sinne entfernen und meinen, das seien menschliche Eigenschaften; dann gestatten wir, dass diese Orte zu Überbleibseln einer extraktivistischen industriellen Tätigkeit werden.“4 Er zeigt auf: „Wenn es eine Gier gibt, die Natur zu konsumieren, dann gibt es auch eine, die Subjektivitäten zu konsumieren – unsere Subjektivitäten.“5 Während manche weiter verschlingen, in heftiger Habgier konsumieren, verhungern andere am Mangel.
Selbstverständlich ist das eine gemachte Knappheit, durch einen Mechanismus konstruiert, der die Persönlichkeit mancher Subjekte – menschlich und nichtmenschlich – negiert, um sie als ausbeutbare Ressourcen zu klassifizieren und sie im Namen der Westlichen und kapitalistischen Konzepte von Entwicklung willkürlich zu konsumieren. Sobald die menschlichen Körper, die in diesem Kreislauf ausgebeutet werden, aufhören, in dessen Dienst zu funktionieren – aufgrund von Krankheit, Hunger, Konflikt oder Tod –; sobald die materiellen Nachwirkungen dieses Prozesses aufkommen (Lebensmittelengpässe, Wasserverschmutzung, globale Erwärmung, Naturkatastrophen), wird die Knappheit erklärt. Es gebe heute nicht genug Essen und Wasser für alle; es gebe nicht ausreichend natürliche Ressourcen, um so viele lebendige, atmende, menschliche Körper zu ernähren. Krenak fragt treffend: „Natürliche Ressourcen für wen? Nachhaltige Entwicklung für was? Was gilt es zu erhalten?“6 Die Grundlagen von Kolonialität und Kapitalismus hängen auch an dieser Herstellung von Knappheit: Damit es Reichtum geben kann, muss es auch Armut geben. Damit manche leben können, müssen andere sterben. Damit einige befriedigt werden, müssen andere verzehrt werden. Obwohl sie durch ein komplexes Netz von Machtstrukturen hergestellt wird, ist Knappheit zu einem bestimmenden greifbaren Umstand im Leben jener geworden, die an den Rändern einer Welt existieren, die noch immer von den kolonialen Wunden vernarbt ist; einer Welt, wo der Himmel sich schwärzt und senkt und wo Wege sich giftig rot verfärben. Die Vorstellung ist keine Erfindung.
Es gibt keinen Platz
Das Narrativ der Knappheit braucht eine Entsprechung – den Überschuss, der jenen Körpern und Leben angelastet wird, die in dem Streben nach der Akkumulation von Wohlstand durch endloses Wirtschaftswachstum als ausbeutbare Ressourcen gerahmt werden. Die Menschen, für die Nahrung, Wasser, Boden, Wohnraum, Versorgung, Zuneigung und Würde nicht aufgebracht werden. Am 11. Juli 2017 interviewte die BBC-Moderatorin Victoria Derbyshire in ihrer Sparte #VictoriaLIVE die Philanthropin Melinda Gates und die damalige Staatssekretärin im Vereinigten Königreich für Internationale Entwicklung, Priti Patel. Thema des Gesprächs war die Geburtenkontrolle, insbesondere die diesbezüglichen Initiativen der Gates Foundation (in deren Vorstand die Philanthropin sowie Patels Ehemann sitzt) und der britischen Regierung im Globalen Süden.
Gates und Patel betonten beide, dass Geburtenkontrolle ein zentrales Thema in der Bekämpfung von Armut im Globalen Süden ist, da sie es Frauen in diesen Regionen ermöglicht, ihre Ausbildung fortzusetzen, zur lokalen Wirtschaft beizutragen und kleinere, geplante Familien besser zu versorgen. Gates argumentierte, dass die von der Gates Foundation initiierten Programme notwendig seien, um die von einem „Bevölkerungsüberschuss“ verursachten Umstände anzugehen. Dieser habe in ihren Worten zur „größten nachkommenden jugendlichen Bevölkerung in der sich entwickelnden Welt“ geführt, „die es je in der Geschichte der Erde gab“. Wenn diese Bevölkerung keinen Zugang zu Verhütung erhalte, dann werde sie zu einem „Leben in elender Armut“ verdammt, fuhr sie fort und setzte dem entgegen: „Wenn du einem Mädchen Verhütungsmittel anbieten kannst, dann wird sie in der Schule bleiben.“ Patel bekräftigte zudem, dass Bevölkerungswachstum in der sich „entwickelnden Welt“ nicht nur negative Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft habe, sondern auch unangemessenen Druck auf die Ressourcen des Vereinigten Königreichs verursache und – noch wichtiger – den Migrationsstrom dorthin vergrößere.7
Die von Gates und Patel angewendete Rhetorik, die Armut und Knappheit als direkte Folge von Bevölkerungswachstum darstellt, ist Jahrhunderte alt. 1798 publizierte der britische Gelehrte Thomas Malthus An Essay on the Principles of Population. Darin argumentiert er, dass, während die Fähigkeit einer Nation, Nahrung zu produzieren, linear zunehme, deren Bevölkerung exponentiell wachse, was zu einem zerstörerischen Kreislauf führe, der in dem mündete, was als Malthusianische Katastrophe bekannt ist. Er schrieb:
„Die Kraft der Bevölkerung[, sich fortzupflanzen,] ist der Kraft des Bodens, genügend Unterhaltsmittel für die Menschheit zu produzieren, derart überlegen, dass frühzeitiger Tod in der einen oder anderen Form das Menschengeschlecht heimsuchen muss. Die Laster der Menschheit sind aktive und fähige Diener der Entvölkerung. Sie sind die Vorboten in der großen Armee der Zerstörung und beenden die furchtbare Arbeit häufig selbst. Doch sollten sie in diesem Krieg der Vernichtung scheitern, schreiten Zeiten der Krankheit, Epidemien, Seuchen und Plagen in schrecklichem Aufgebot voran und machen ihrerseits Tausende und Zehntausende nieder. Sollte der Erfolg noch unvollständig sein, steht eine gigantische unvermeidliche Hungersnot hintan und bringt mit einem mächtigen Schlag die Bevölkerung auf ein Niveau mit der Nahrung der Welt.“ 8
Obwohl er nicht der Erste war, der diese Vorstellungen formulierte, bleibt Malthus ihr berühmtester Vertreter. Der Anthropologe Eric Ross merkt an, dass Malthusianische Theorien die Grundlage waren, „um ein dauerhaftes Argument für die Verhinderung von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderung zu bieten und um sowohl im akademischen als auch im allgemeinen Denken die wirklichen Wurzeln von Armut, Ungleichheit und Umweltzerstörung zu verschleiern“.9 Durch die Malthusianische Linse ist Knappheit kein unvermeidbares – und gewolltes – Ergebnis kapitalistischer Systeme, sondern Folge der Handlungen und Entscheidungen der Armen selbst.10 Seit Malthus’ ursprünglicher Formulierung wurden seine Argumente von Akademiker*innen und Aktivist*innen gleichermaßen immer wieder neu gesichtet und verwendet: von Paul Ehrlich (einem der ersten Biologen, die den ökologischen Zusammenbruch auf Überbevölkerung zurückführten)11 bis zu Margaret Sanger, deren Kreuzzug für das Recht auf Verhütung im frühen 20. Jahrhundert von der Einschätzung motiviert war, dass das Leid und die Verarmung von Frauen die Folge ihrer unregulierten Fruchtbarkeit seien.12
Doch die Wissenschaftlerinnen Kalpana Wilson und Laura Briggs betonen, dass Gesetze zur Bevölkerungskontrolle, die im Globalen Süden eingeführt werden, die auf Neo-Malthusianischen Überzeugungen beruhen und mit den finanziellen und politischen Anreizen von Nationen des Globalen Nordens befördert werden, als Fortsetzungen des kolonialen/imperialen Projekts verstanden werden sollten, insofern sie den Sex und die Reproduktion kolonisierter Subjekte zugunsten der Kolonisierenden pathologisieren.13 Eingriffe in die Fruchtbarkeit und Sexualität kolonisierter Subjekte werden hierin als notwendig und vorteilhaft formuliert. In der Rhetorik der humanitären Hilfe von Patel und Gates werden sie als Strategien zur Stärkung von Frauen und Mädchen präsentiert, die angewandt werden, um diesen Teil der Bevölkerung in die (unterbezahlte) Erwerbsbevölkerung des Globalen Südens zu integrieren. Beide Interviewten nutzten besonders die Bezeichnung „Entwicklungsländer“ [developing countries], um die Menschen politisch und geografisch zu verorten, die den von ihnen besprochenen Gesetzen und Programmen unterworfen sind. Doch diese Bezeichnung verschleiert die Komplexität und Diversität der kolonisierten Subjekte, deren Sexualitäten und Fruchtbarkeit hier geprüft werden. In der Folge verbirgt diese Bezeichnung auch, inwiefern die Gesetze der Bevölkerungskontrolle grundlegend für den Erhalt der kolonial-rassistischen Hierarchien in den USA waren – was Forscherinnen wie Dorothy Roberts,14 Angela Davis,15 Elena Gutiérrez16 und Anne Hendrixson17 gründlich dokumentiert und diskutiert haben. Besonders Patels Argument entspricht einem Diskurs, der Bevölkerungswachstum im Globalen Süden mit Bedrohungen für die nationale Identität und Sicherheit verknüpft. Hendrixson erkennt diesen Diskurs als tieferliegende Begründung für den militärischen Interventionismus der USA – und ich würde erweitern, des Westens – im Nahen Osten und für die Überwachung von Menschen mit muslimischen und arabischen Familienhintergründen, die sich innerhalb der US- und EU-Grenzen bewegen.
Die Arbeiten von Wilson und Briggs konzentrieren sich primär auf die Förderung solcher Gesetze im Globalen Süden durch Organisationen und Institutionen in den USA oder Europa. Eine ähnliche rassistische Logik leitet jedoch auch Initiativen der Gesundheitsversorgung in vielen Institutionen und Organisationen im Globalen Süden, die sich an vor Ort marginalisierte Bevölkerungsgruppen richten. Die systematische, nicht eingewilligte Massensterilisierung von Indigenen Menschen in Peru unter dem Regime des Diktators Alberto Fujimori in den 1990er Jahren ist ein solches Beispiel.18 In Salvador, Brasilien, hat die Anthropologin Emilia Sanabria die weit verbreitete Zwangsanwendung der Verhütungsinjektion Depo-Provera an geringverdienenden Frauen dokumentiert, die sich an staatlich finanzierte Familienplanungsdienste wandten.19 Der gegenwärtige brasilianische Präsident Jair Bolsonaro unterstützt schon lange viele der Ideen Fujimoris und verteidigt strenge Gesetze zur Bevölkerungskontrolle, die sich gegen die Ärmsten im Land richten, als einen Weg, „Kriminalität und Armut zu kontrollieren“.20 Bolsonaros Rhetorik ist keineswegs neu: Historisch wurden in Brasilien Gesetze zur Bevölkerungskontrolle als etwas präsentiert, das positive Auswirkungen auf die allgemeine Bevölkerung hat,21 als eine Strategie, um die bevorstehende Bedrohung der Knappheit abzuwehren.
Während Debatten über die Klimakrise und ihre gegenwärtigen und zukünftigen Auswirkungen prominenter geworden sind, wurde das Szenario dadurch weiter verkompliziert, dass mögliche Verbindungen zwischen Überbevölkerung, globaler Erwärmung und der Angst vor der Verbreitung von Knappheit wieder ins Rampenlicht gerückt wurden – bis zu dem Punkt, dass Akte rassistischer Gewalt sich auf die Furcht vor einer drohenden Klimakatastrophe beriefen, die durch die Anwesenheit Schwarzer und Brauner Körper innerhalb der Grenzen Westlicher Nationen ausgelöst sei.22 Die Vorstellung eines exzessiven Überschusses an Körpern ist nicht von kolonialen Strukturen trennbar, die schon lange daran arbeiten, Menschen in hierarchische Kategorien einzuordnen. Rhetorik wird zu Angst wird zu Politik wird zu Gewalt wird zu Rhetorik. Dieser Prozess ist in die Alltagsleben jener eingewoben, die – obwohl sie „an dieser Erde festhalten, jene sind, die entlang der Grenzen des Planeten vergessen werden, an den Ufern der Flüsse, den Küsten der Meere, in Afrika, in Asien oder in Lateinamerika“.23 Obwohl sie kritisch gegenüber der Rhetorik der „Bevölkerungsbombe“ ist, dreht sich Donna Haraway in ihrem Beitrag zum Buch Making Kin Not Population hinsichtlich der Klimakrise um den Diskurs der Knappheit. Sie argumentiert:
„Die Nahrungsmittelproduktion trägt entscheidend zu Klimawandel und Artensterben bei, wobei – wie üblich – jene Menschen und Nichtmenschen, die am meisten profitieren, nur die am wenigsten bedrohlichen Auswirkungen abbekommen. Die Über-Völkerung [super-peopleing] auf der Erde, sowohl an Menschen als auch an industriellen und pathogenen Nichtmenschen ist eine Praxis des Weltmachens, die auf der Verpflichtung zu endlosem Wachstum und enorm ungleichem Wohlbefinden basiert.“24
Obwohl Haraway in diesem Absatz Raum lässt für eine Kritik an den Systemen und Netzwerken, die im Kapitalismus Knappheit hervorbringen, widerruft sie diese Zeile später, indem sie schreibt, dass „die Beschuldigung des Kapitalismus, Imperialismus, Neoliberalismus, der Modernisierung oder irgendeines anderen ‚nicht wir‘ für die fortwährende Zerstörung durch menschliche Zahlen, nicht aufgehen wird“.25 Zudem verfechtet sie: „Die antirassistische, feministische Vermeidung, öffentlich über die drängenden Dringlichkeiten menschlicher und nichtmenschlicher Bevölkerungen nachzudenken und sich dazu zu verhalten, ähnelt der Leugnung des menschengemachten Klimawandels durch einige stark gläubige US-amerikanische Christen.“26 Haraway geht sogar so weit, „nur halb-scherzend zu einer gleitend gestuften Reduzierung der Anzahl an Menschen aufzurufen“.27 In diesem System, schlägt sie vor, müssten jene, die ein menschliches Baby gebären möchten, Gutscheine von anderen möglichen Eltern einsammeln; die Zahl der notwendigen Gutscheine würde entlang der kulturellen, wirtschaftlichen, rassifizierten und ethnisierten Hintergründe der Eltern variieren. Haraways Argument beachtet nicht, dass nicht alle Menschen in der gleichen Beziehung zur Erde stehen; sie gibt zwar zu, dass jene, die in sogenannten entwickelten, Westlichen Gesellschaften leben, andere Auswirkungen auf den Planeten haben, als Menschen, die in anderen Gesellschaften organisiert sind, doch diese Erkenntnis schafft es nicht in die Kernlogik ihres Arguments. Lasst uns zu Krenak zurückkehren, der anmerkt:
„Wenn wir der Erde einen Abdruck verpasst haben, der so tief ist, dass er eine Epoche kennzeichnet – der vielleicht länger bestehen bleibt als wir, weil wir die Quellen des Lebens erschöpfen, die es uns ermöglichen, zu gedeihen und uns zuhause zu fühlen […] – dann liegt es daran, dass wir wieder vor einem Dilemma stehen, das ich bereits angedeutet habe: Wir schließen lokal jene Organisationsformen vom Leben aus, die nicht in die Welt der Waren integriert sind, und gefährden damit alle anderen Lebensformen – zumindest jene, die wir für möglich hielten, wo es gemeinsame Verantwortung für die Orte gibt, an denen wir leben, sowie Respekt für das Leben von Wesen und nicht nur diese Abstraktion, die wir uns als eine Menschheit zu konstruieren erlaubten, die alle anderen und alle anderen Wesen ausschließt.“28
Während Haraway darauf beharrt, dass dieses System nicht vorgegeben, sondern willens angenommen würde, beruht ihr spekulativer Vorschlag auf der Annahme des guten Willens aller Beteiligten. Fünfhundert Jahre Geschichte haben jedoch mehr als reichlich gezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Solange manche Menschen nicht ganz als Menschen wahrgenommen werden, wird jedes solche System zwangsläufig zu Gewalt gegen bereits marginalisierte Bevölkerungen führen – gegen jene, die am stumpfen Ende dessen leben, was die Philosophin María Lugones das koloniale/moderne Geschlechtersystem nennt. Dieses System, erklärt Lugones, ist grundlegend für die Verankerung und Fortsetzung des kolonialen Projekts und beinhaltet, was sie eine „helle“ und eine „dunkle“ Seite nennt, die auf verschiedene Weisen funktionieren und auf verschiedene Körper unterschiedlich einwirken. Hegemoniale (das heißt, europäische) Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität kennzeichnen die „helle“ Seite des kolonialen/modernen Geschlechtersystems, das „die Leben weißer bürgerlicher Männer und Frauen“ strukturiert.29 Zugleich konstruiert diese helle Seite die Bedeutung (epistemologisch und ontologisch) der modernen Kategorien „Männer“ und „Frauen“. 30
Die „dunkle“ Seite des kolonialen/modernen Geschlechtersystems regiert die Leben jener, die außerhalb des weißen bürgerlichen Heteropatriarchats leben. Beide Seiten dieses Geschlechtersystems sind gewaltvoll, doch manifestiert sich diese ihm innewohnende Gewalt auf unterschiedliche Weise. Während auf weißen Frauen lastet, die „weiße Rasse“ aufrechtzuerhalten – wie Angela Davis ebenfalls betont hat31 – werden Frauen of Color „als Tiere verstanden, in dem tieferen Sinne von ‚geschlechtslos‘: körperlich als weiblich markiert, aber ohne die Kennzeichen kultureller Weiblichkeit“.32 In der Rhetorik der Schadensbegrenzung hinsichtlich der Klimakrise werden ähnliche Argumente in Forderungen nach der Überwachung von Fruchtbarkeit übersetzt, von denen viele Haraways Aufruf ähneln. Sie werden als für die gesamte Weltbevölkerung notwendig und vorteilhaft präsentiert. Zugleich bleibt die unbequeme Tatsache der fortwährenden Gier des Globalen Nordens nach verfügbaren und wegwerfbaren Gütern, ausbeutbaren Körpern und natürlichen Ressourcen – alles Hauptfaktoren der andauernden Krise – häufig unbeachtet oder wird nur am Rande untersucht. Stattdessen wird die Schuld auf jene verschoben, die unter dem Zwang leben, den Jahrhunderte der kolonialen Herrschaft gebracht haben. Wie Krenak betont, ist diese Herrschaft an sich ein andauerndes Projekt, die Welt an ihr Ende zu bringen.33 Schließlich offenbaren diese Bedenken die Verdrehtheit von Forderungen nach Fürsorge – besonders nach reproduktiver Versorgung –, die nicht angemessen die zugrundeliegenden kapitalistisch-kolonialen Ausgestaltungen thematisieren. Dies an sich ist eine Gewalt, eine weitere Weise, das ‚Andere‘ zu verschlingen.
Vorhersehbarerweise materialisiert sich das Narrativ von der Klimakrise in Verknüpfung mit unkontrollierter Fortpflanzung in Technologien, die derzeit entwickelt werden, um sogenannte Lösungen für das wahrgenommene Problem der Überbevölkerung zu bieten. Ein denkwürdiges Beispiel ist das Startup Microchips Biotech, das mit Unterstützung der Gates Foundation und in Kooperation mit dem israelischen Pharmazeutikunternehmen Teva 2014 ihr Vorzeigeprodukt verkündete: ein ferngesteuertes intelligentes Verhütungsimplantat, das 2018 auf den Markt kommen sollte.34 Der Mikrochip kann mit einer firmeneigenen App an- und ausgeschaltet werden, die von einem Arzt kontrolliert wird. Im Gegensatz zu den drei Funktionsjahren bisheriger Verhütungsimplantate soll es bis zu 16 Jahre lang funktionieren – also für einen Großteil des fruchtbaren Lebenszeitraums. Zusätzlich könnte das Implantat eine Vielzahl an Datenpunkten über die Patient*innen sammeln – vordergründig, um angepasste Gesundheitsversorgung anzubieten. Bill Gates stellte 2014 klar, dass der Chip eher weniger für Westliche Nutzer*innen, sondern vielmehr für Regionen der sich entwickelnden Welt erdacht worden sei, wo er eine „Form der reproduktiven Gerechtigkeit“ bedeutete, statt einer bloßen „Lebensstil-Entscheidung“.35 Er könne als Teil der unzähligen Programme zur Geburtenkontrolle verteilt werden, die die Stiftung im Globalen Süden initiiert. Mit Stand 2019 wurden keine weiteren Informationen über das Projekt veröffentlicht.
Die massenhafte Verteilung von Geräten wie dem Mikrochip-Implantat könnte ernsthafte Auswirkungen auf die digitalisierte biometrische Überwachung jener Menschen haben, die auf der „dunklen Seite“ des kolonialen/modernen Geschlechtersystems leben. Diese Körper sind schon lange übermäßig sichtbare Ziele von Überwachung durch öffentliche und private Akteure. Um die Bandbreite der Auswirkungen dieser Überwachung zu verstehen, ist es jedoch grundlegend, ‚Reproduktion‘ als einen breiteren Satz an Praktiken und Ausgestaltungen zu begreifen, die Leben herstellen, statt als streng biologischen Prozess. Zur Frage der Knappheit zurückzukehren, hilft hier, das oft wiederholte Narrativ der „Entscheidung“ neu zu rahmen, das viele weiße Westliche Feminist*innen bezüglich Reproduktion vorbringen. Der Mangel – an Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Bildung, angemessenen klimatischen Bedingungen – ist genau das Argument, das die angenommene Notwendigkeit für Verhütungstechnologien im Globalen Süden animiert, wie das von Microchips Biotech entwickelte und von Leuten wie Gates und Patel angeschobene Gerät. Daraus folgt, dass zur Vermeidung von Knappheit diese Subjekte beobachtet werden müssen und ihre Fruchtbarkeit „zu ihrem eigenen Besten“ kontrolliert – sie werden für unfähig erklärt, solche Entscheidungen selbst zu treffen. So lautet das verdrehte Narrativ der „Fürsorge“ in Verknüpfung mit Knappheit: Die Verletzlichen müssen jede scheinbare Hilfe von denselben mächtigen Akteuren akzeptieren und dankbar annehmen, die von dieser Verletzlichkeit in erster Linie profitieren.
Es ist ebenso grundlegend, in Betracht zu ziehen, dass die gelebte Erfahrung von herbeigeführter Knappheit tiefgreifende Auswirkungen auf die Wege und Entscheidungen hat, denen Menschen sich zu folgen gezwungen sehen. Im Surinam des 18. Jahrhunderts dokumentierte etwa die Naturforscherin Maria Sibylla Merian die Nutzung einer Pfauenlilieninfusion durch versklavte Indigene und afrikanische Menschen zur Herbeiführung von Abtreibungen. Merian betonte, dass es sich hier um eine Reaktion auf die Situation der extremen Gewalt handelte, der diese Menschen unterworfen waren. Sie taten es, so schrieb sie, „so dass ihre Kinder nicht wie sie versklavt werden würden“.36 Obwohl die Bedrohung der Klimakatastrophe sich über dem gesamten Planeten zusammenbraut, gibt es auch heute noch eine scharfe Trennung zwischen jenen, die am stärksten davon betroffen sind und jenen, die über die Ressourcen verfügen, um die kommende Katastrophe zu überleben. Das dominante Narrativ von der Klimakrise handelt vom Leiden, das auf andere anderswo delegiert wird, durch ein Wirtschaftssystem, das auf der Herstellung von Knappheit für einige beruht, um anderen Reichtum zu bringen. Es ist eine Erzählung, die die Persönlichkeit von Wesen negiert: von menschlichen und nichtmenschlichen, lebendigen und noch nicht oder nicht mehr verkörperten – ein schwelender Effekt der kolonialen Hierarchien, die schon so lange genutzt werden, um die Enteignung von Land, die Ausbeutung von Körpern und die Extraktion sogenannter Ressourcen zu rechtfertigen. Es ist eine Erzählung, die die koloniale Gier nach Homogenisierung und Globalisierung nährt, die danach strebt, „Vielfalt zu verdrängen, die Mehrheit von Formen des Lebens, der Existenz und Gewohnheiten abzuweisen“, indem sie „allen dasselbe Menü, dieselben Kostüme und wenn möglich dieselbe Sprache“ anbietet.37 Und so werden jene, die „an dieser Erde festhalten“ in ein monokulturelles, universalisierendes Narrativ hineingedrängt und -gezwängt, während sie zugleich vergessen bleiben – „an den Ufern der Flüsse, den Küsten der Meere“,38 wo sie dasselbe verdrehte Handlungsschema navigieren, das diese Marginalisierung produziert hat und weiterhin produziert. Doch wenn dunkle Himmel sich zusammenbrauen, erinnert uns Krenak, dann gibt es „viele kleine Konstellationen von Menschen auf der ganzen Welt verstreut, die tanzen, singen und Regen machen“.39 Das Ende der Welt hat schon so oft stattgefunden und zeichnet die Ränder der Welt wie Narben, aber „wenn du fühlst, dass der Himmel sich zu tief herabsenkt, dann musst du ihn bloß wieder zurückschieben und atmen“.40
Eine Fülle kleiner Gesten
Wie ist es dann möglich, in einem politischen System, das zum Töten bestimmt ist, Bedingungen für das Leben zu schaffen? Wie können wir einem Narrativ der Knappheit entgegenwirken, dessen einzige Lösung, wie sie uns vom gegenwärtigen System präsentiert wird, in der totalen Aufzehrung der Erde liegt – und damit auch aller Wesen, menschlich und nichtmenschlich, lebendig und noch nicht oder nicht mehr verkörpert, die zu ihr in Beziehung stehen? Wie können wir radikale, dekolonisierende Praktiken der Fürsorge und der Zuneigung erhalten, die jene Infrastrukturen direkt anfechten, welche die Fähigkeit einschränken, Zukünfte zu gestalten und Welten zu erhalten, die multipel, plural und heterogen sind?
2019 erhielt ich eine kombinierte Kunstresidenz der transmediale und der Universität der Künste Berlin, um an einem Projekt mit dem Titel „The Councils of the Pluriversal: Affective Temporalities of Reproduction and Climate Change“ (Die Räte des Pluriversellen: Affektive Zeitlichkeiten der Reproduktion und des Klimawandels) zu arbeiten. Darin wollte ich zu Ratssitzungen einladen – einer Reihe von Treffen mit Aktivist*innen, Künstler*innen, Älteren und Denker*innen aus marginalisierten Gruppen im Globalen Norden und Süden. Bei diesen Veranstaltungen wollte ich Gespräche anregen: über die Verschränkungen zwischen der Klimakrise, Reproduktion, den Geschichte/n der Ahn*innen und der Zukunft, Land und Zugehörigkeit sowie radikalen, dekolonisierenden Praktiken der Fürsorge. Ein leitendes Prinzip dieser Treffen sollte die Vorstellung von „un mundo donde quepan muchos mundos“ sein – eine Welt, in der viele Welten Platz haben. Das Konzept wurde zuerst von der zapatistischen Befreiungsbewegung in Mexiko vorgebracht:
„Viele Worte werden in der Welt begangen. Viele Welten werden gemacht. Viele Welten machen uns. Es gibt Worte und Welten, die Lügen und Ungerechtigkeiten sind. Es gibt Worte und Welten, die wahrhaft und wahr sind. Wir machen wahrhafte Welten. Wir werden aus wahrhaften Worten gemacht. In der Welt der Mächtigen gibt es nur Raum für die Großen und jene, die ihnen dienen. In der Welt, die wir wollen, gibt es Raum für alle. Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt, in der viele Welten Platz haben. Die Nation, die wir aufbauen, ist eine, in der alle Völker und ihre Sprachen Platz haben, die in allen Gangarten begangen werden kann, in der gelacht werden kann, die erwacht sein kann.“41
Dieses Konzept weist universalisierende Impulse in Richtung Konsens zurück und bevorzugt stattdessen zeitliche, räumliche und infrastrukturelle Vielheiten, die das Aufkommen von epistemologischer und ontologischer Komplexität nähren. The Councils of the Pluriversal waren als dialogische und idiosynkratische Veranstaltungen konzipiert, die keine erschöpfenden, einenden oder definitiven Zusammenfassungen von Fragen der Fürsorge, Zeitlichkeiten, Reproduktion und Klimawandel bieten sollten, sondern vielmehr mögliche Einstiegspunkte, um durch diese Fragen zu denken und zu handeln.
Im Forschungsprozess hatte ich die Ehre und das Privileg, affektive Verbindungen der Fürsorge und Nähe mit einer Reihe von Menschen zu stärken und zu erweitern, die sich in den enorm unterschiedlichen Kontexten von Rio de Janeiro und Boa Vista in Brasilien sowie Berlin in Deutschland bewegen. Mein tiefster Dank gilt Ika Hügel-Marshall und Dagmar Schultz in Berlin; Vó Bernaldina, Jaider Esbell, Paula Berbert, Raquel Blaque, Amazoner Arawak, Parmênio Citó und Caio Clímaco in Boa Vista;42 sowie den Hunderten von Aktivist*innen, denen ich in den Straßen von Rio begegnete, die protestierten und zugleich füreinander sorgten und einander in Sicherheit wahrten. Diese Verbindungen wurden nicht alle als Teil dieses Projekts begonnen; die meisten waren bestehende Beziehungen, die durch gemeinsame Interessen im Kampf um Dekolonisierung sowie reproduktive Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit entstanden waren. Einige dieser Verbindungen dehnten sich auch auf nichtmenschliche Wesen – wie die lavrado-Vegetation oder die Flüsse und igarapés im Bundesstaat Roraima, wo Boa Vista liegt – sowie auf nicht mehr verkörperte Menschen aus – insbesondere Audre Lorde und May Ayim, deren Wahrheit in Worten und Welten über das Leben selbst hinausgehen kann.
Am wichtigsten ist aber, dass all diese Menschen bereits durch ihre Praktiken – etwa beim Aktivismus, Kunstschaffen, Kuratieren, Singen, Kochen, Geschichtenerzählen, Kulturarbeiten, Schreiben, Dichten, Filmemachen, bei Bildungs- und Sorgearbeit – ihre eigenen Versionen dessen umsetzten, was ich nun als Councils of the Pluriversal bezeichnete. Unter all den Erfahrungen, die ich in der Entwicklung dieser Forschung sammelte, war dies vielleicht die wichtigste Erkenntnis, die mich demütig machte: Kunst, insbesondere politisch ausgerichtete Kunst, läuft häufig Gefahr, sich von großen, sensationellen Gesten anziehen zu lassen. Sie werden zu Darbietungen, die jenen, die Macht haben, einschließlich der Künstler*innen selbst, weit mehr nützen als jenen, die tatsächlich von den thematisierten Fragen betroffen sind. Es gab keine Notwendigkeit für mich, die Räte als solche zu benennen; sie existierten schon in anderen Formen, wurden von Menschen praktiziert, deren Aufrichtigkeit, Hingabe und tiefes Verständnis für ihre Communitys und Zeitgenoss*innen ihnen ermöglichen, neue Räume zu formulieren, in denen sich über einen ausgedehnten Zeitraum hinweg ständig-werdende Formen der Fürsorge füreinander entwickeln. Diese Art der Erhaltungsarbeit setzt sich aus kleineren Gesten mit langfristigen Nachwirkungen zusammen; aus Gesten, die das vom Kapitalismus vorgebrachte Narrativ der Knappheit in Schwierigkeiten bringen und in Richtung anderer Möglichkeiten, anderer Wirklichkeiten, anderer Welten zeigen, in denen Fülle – an Zeit, Großzügigkeit, Zuneigung, Geduld – möglich ist. Dieses Werk umfasst die Makuxi-Ältere Vó Bernaldina, wie sie damurida zubereitet, einen althergebrachten Fischeintopf aus lokalen Zutaten – in einem Topf gekocht, der aus Ton gemacht ist, der vom Boden geborgt wurde – der mit Maniok gegessen und jenen angeboten wird, die die Galerie des Künstlers Jaider Esbell in Boa Vista besuchen. Es umfasst die Künstlerin und Köchin Raquel Blaque, die aus Lebensmittelresten mit lokalen Kräutern und Gemüsen ein Essen für Schüler*innen bereitet, die einen Raum suchten, wo sie sich mit Indigener Kunst beschäftigen und die Feuer besprechen können, die stetig den Wald südlich von Boa Vista verschlingen. Es umfasst den Künstler und Anthropologen Amazoner Arawak, wenn er bei einer Flasche caxiri43 von den Kosmologien der Wapixana erzählt und von der Ausbeutung Indigener materieller Kulturen durch europäische Kulturinstitutionen. Es umfasst Jaiders Großzügigkeit, mit der er jenen, die in Boa Vista ankommen – um dort zu leben, sich auszutauschen, zu lernen –, sein Leben, seine Galerie, sein Zuhause öffnet. Es umfasst eine Gruppe junger Studierender, die in Rio de Janeiro mit einem großen Plakat gegen die Brandrodungen im Amazonas-Gebiet protestieren und dabei von ihren Freund*innen gefüttert werden, damit sie das Plakat nicht niederlegen müssen. Es umfasst Ika Hügel-Marshall und Dagmar Schultz, lebenslange Freundinnen von Audre Lorde, die bei sich zuhause ein Essen kochen, um junge feministische, antirassistische und ökologische Aktivist*innen miteinander in Kontakt zu bringen – so wie auch Lorde es getan hat. Es umfasst Vó Bernaldina, wenn sie ein Makuxi-Lied singt, um die Anerkennung des Gebiets Raposa Serra do Sol als Indigenen Boden zu feiern.
Verbindungen der Zuneigung zu knüpfen, ist ein langfristiger Prozess, wie Ailton Krenak der Kunst- und Kulturschaffenden Paula Berbert und mir im Gespräch sagte. Nur durch nährende, aufrichtige, stabile Beziehungen können die Bedingungen entstehen, die das Leben erhalten; können wahrhaft pluriverselle Formen des Umgangs miteinander und mit der Welt aufkommen. Dem Narrativ der Knappheit entgegenzuwirken, erfordert Fülle. Anstatt Ratsversammlungen abzuhalten, wie ich es mir vorgestellt hatte, wurde am Ende der zentrale Weg meines Werks die Erkundung dieser verschiedenen Formen der Beziehung und der Fürsorgepraktiken mit anderen Körpern, menschlich wie nichtmenschlich; der Beginn einer langfristigen Auseinandersetzung, dessen erste Verzweigungen bei der transmediale 2020 präsentiert werden. Wie schließlich Krenak herausstellt:
„Warum bringt uns das Gefühl des Fallens solches Unbehagen? Wir haben in letzter Zeit nichts anderes getan als zu fallen. Fallen, fallen, fallen. Warum sind wir also besorgt über den Prozess des Fallens? Lasst uns all unsere kritische und kreative Energie dafür aufbringen, bunte Fallschirme zu bauen. Lasst uns Räume nicht als beschränkte Orte denken, sondern als Kosmos, in dem wir mit bunten Fallschirmen fallen können.“ 44
Dekolonisierung ist keine individuelle Entscheidung; sie erfordert kollektive, nachhaltige, engagierte Arbeit. Lasst und diese Visionen von blauen Himmeln und offenen Wegen nähren. Lasst uns einander nähren – mit Verantwortung, Fürsorge, Zuneigung und Geduld.
Übersetzung aus dem Englischen von Jen Theodor.
- 1. Ana Luíza Guimarães, Globoplay, „Acidente Derruba Agrotóxico Na Marginal Da Rodovia Na Baixada“ (24. August 2019), https://globoplay.globo.com/v/7867648/.
- 2. Patrícia Figueiredo, „Moradores de SP Coletam Água Preta de Chuva Em Dia Que a Cidade Ficou Sob Nuvem Escura“, G1 (20. August 2019), https://g1.globo.com/sp/sao-paulo/noticia/2019/08/20/moradores-de-sp-col....
- 3. Ana Carolina Moreno, „Desmatamento na Amazônia em junho é 88% maior do que no mesmo período de 2018“, G1 (3. Juli 2019), https://g1.globo.com/natureza/noticia/2019/07/03/desmatamento-na-amazoni....
- 4. Ailton Krenak, Ideias para adiar o fim do mundo, Band 1, São Paulo: Companhia das Letras, 2019, S. 49. Alle Zitate aus diesem Text wurden von Prado ins Englische übertragen und von dort aus ins Deutsche.
- 5. Ebd., S. 32.
- 6. Ebd., S. 22.
- 7. Victoria Derbyshire, BBC News (9 a.m.–11 a.m. 11 July 2017), http://archive.org/details/BBCNEWS_20170711_080000_Victoria_Derbyshire.
- 8. Thomas Robert Malthus, An Essay on the Principle of Population, CreateSpace Independent Publishing Platform, 2014 (1798), S. 50. A.d.Ü. Da diese erste Ausgabe nicht ins Deutsche übersetzt worden ist, sondern nur die spätere etwa doppelt so lange, zweibändige und umstrukturierte Fassung, übersetze ich die zitierte Textstelle hier selbst.
- 9. Eric B. Ross, The Malthus Factor: Poverty, Politics and Population in Capitalist Development, New York: Zed Books, 1998, S. 1.
- 10. Kalpana Wilson, Race, Racism and Development: Interrogating History, Discourse and Practice, New York: Zed Books, 2012.
- 11. Paul R. Ehrlich, The Population Bomb, New York: Ballantine Books, 1969.
- 12. Dorothy Roberts, Killing the Black Body: Race, Reproduction, and the Meaning of Liberty, New York: Vintage Books, 1998.
- 13. Wilson, Race, Racism and Development; Laura Briggs, Reproducing Empire: Race, Sex, Science, and U.S. Imperialism in Puerto Rico, Berkeley: University of California Press, 2002.
- 14. Dorothy Roberts, Killing the Black Body.
- 15. Angela Y. Davis, Women, Race, & Class, New York: Vintage, 1983.
- 16. Elena R. Gutiérrez, Fertile Matters: The Politics of Mexican-Origin Women’s Reproduction, Austin: University of Texas Press, 2008.
- 17. Anne Hendrixson, „Angry Young Men, Veiled Young Women: Constructing a New Population Threat“, The Corner House, Briefing 34 (2. Dezember 2004), http://www.thecornerhouse.org.uk/resource/angry-young-men-veiled-young-w....
- 18. Mathilde Damoisel (Regie), A Woman’s Womb (2010), http://www.cultureunplugged.com/play/4623/A-Woman-s-Womb.
- 19. Emilia Sanabria, Plastic Bodies: Sex Hormones and Menstrual Suppression in Brazil, Durham: Duke University Press, 2016.
- 20. Ranier Bragon, „Bolsonaro defendeu esterilização de pobres para combater miséria e crime“, Folha de S.Paulo (11 June 2018), https://www1.folha.uol.com.br/poder/2018/06/bolsonaro-defendeu-esteriliz....
- 21. Sanabria, Plastic Bodies; Lilia Moritz Schwarcz, „Espetáculo da miscigenação“, Estudos Avançados 8.20 (April 1994): 137-152.
- 22. Natasha Lennard, „The El Paso Shooter Embraced Eco-Fascism. We Can’t Let the Far Right Co-Opt the Environmental Struggle“, The Intercept (5. August 2019), https://theintercept.com/2019/08/05/el-paso-shooting-eco-fascism-migration/.
- 23. Krenak, Ideias para adiar o fim do mundo, S. 21.
- 24. Adele Clarke und Donna J. Haraway (Hg.), Making Kin Not Population: Reconceiving Generations, Chicago: Prickly Paradigm Press, 2018, S. 71-72.
- 25. Ebd., S. 88.
- 26. Ebd., S. 87.
- 27. Ebd., S. 75.
- 28. Krenak, Ideias para adiar o fim do mundo, S. 46-47.
- 29. María Lugones, „Heterosexualism and the Colonial/Modern Gender System“, Hypatia 22.1 (2007): 186-209, S. 206.
- 30. Ebd.
- 31. Davis, Women, Race, & Class, S. 209.
- 32. Lugones, „Heterosexualism“, S. 202.
- 33. Krenak, Ideias para adiar o fim do mundo.
- 34. Microchips Biotech, http://microchipsbiotech.com/; Rob Matheson, „Major Step for Implantable Drug-Delivery Device“, MIT News (29. Juni 2015), http://news.mit.edu/2015/implantable-drug-delivery-microchip-device-0629.
- 35. Dominic Basulto, „This Amazing Remote-Controlled Contraceptive Microchip You Implant under Your Skin Is the Future of Medicine“, Washington Post (17. Juli 2014), https://www.washingtonpost.com/news/innovations/wp/2014/07/17/this-amazi....
- 36. Maria Sibylla Merian, Metamorphosis Insectorum Surinamensium, Tielt: Lannoo Publishers, 2016, S. 45.
- 37. Krenak, Ideias para adiar o fim do mundo, S. 22-23.
- 38. Ebd., S. 21.
- 39. Ebd., S. 26.
- 40. Ebd., S. 28.
- 41. Comité Clandestino Revolucionario Indígena-Comandancia General del Ejército Zapatista de Liberación Nacional, „Cuarta Declarión de la Selva Lacandona“, Enlace Zapatista, http://enlacezapatista.ezln.org.mx/1996/01/01/cuarta-declaracion-de-la-s.... Deutsche Übersetzung nach der Übersetzung ins Englische durch die Autorin.
- 42. Lavrado, eine brasilianische Savanne; igarapé, ein Wasserlauf des Amazonas.
- 43. Caxiri ist ein fermentiertes Maniok-Getränk, das im Amazonasbecken getrunken wird.
- 44. Krenak, Ideias para adiar o fim do mundo, S. 30.