Hindurch und darüber hinaus: Postdigitale Praktiken, Konzepte und Institutionen

Essay
12.12.2016

Hindurch und darüber hinaus: Postdigitale Praktiken, Konzepte und Institutionen

Am 7. Dezember 2016 feierte die transmediale den Launch ihrer neuen Publikation am Institute for Contemporary Arts in London. Das Buch ist ein Reader über die sich ändernden (und oftmals umstrittenen) Konzepte des Postdigitalen innerhalb von Kunst und Kultur, mit einem Fokus auf den institutionellen Rahmen dieses Begriffes. Im transmediale/journal wurde nun der gemeinsam von den drei Herausgebern verfasste einleitende Essay, welcher das Konzept und den Inhalt des Buches näher beschreibt, veröffentlicht.

 

Aus der Hörmuschel kam ein Summen, wie K. es sonst beim Telefonieren nie gehört hatte. Es war, wie wenn sich aus dem Summen zahlloser kindlicher Stimmen – aber auch dieses Summen war keines, sondern war Gesang fernster, allerfernster Stimmen –, wie wenn sich aus diesem Summen in einer geradezu unmöglichen Weise eine einzige hohe, aber starke Stimme bilde, die an das Ohr schlug, so, wie wenn sie fordere, tiefer einzudringen als nur in das armselige Gehör. K. horchte, ohne zu telefonieren, den linken Arm hatte er auf das Telefonpult gestützt und horchte so [...] dem Telefon gegenüber war er wehrlos [...].
– Franz Kafka, Das Schloss 1

Mit der Allgegenwärtigkeit digitaler Technologien und dem Eintreten der Generation sogenannter Digital Natives in die künstlerische Praxis wurden die Disziplinen der Medientheorie, Medienkunst und ihre Institutionen in den letzten zehn Jahren dramatisch umgestaltet. Begriffe wie „post-Internet“ und „postdigital“ sind an künstlerische Auseinandersetzungen mit Technologie geknüpft, die sich nicht unbedingt mit dem Digitalen als solchem beschäftigen, sondern vielmehr mit dem Leben seit und im Digitalen. Es wird durch das Alte und Neue, durch das Digitale und Analoge hindurch gearbeitet. Das Postdigitale als Idee und Begriff ermöglicht es, die Koordinaten der Debatte zu beschreiben, zu kontextualisieren und zu verschieben.

Zugleich haben Medien- und Kulturtheorie die Herausforderung dieser postdigitalen Welt angenommen, in der es unmöglich geworden ist, die Auseinandersetzung mit der technologischen Materialität von jener des vernetzten globalen Kapitalismus und des ökologischen Wandels von planetarischem Ausmaß zu lösen. Für Kafkas Protagonist K. hinterlässt die neue mediale Realität des Signalsummens in der Telefonleitung eine akustische Spur, doch trägt sie keine klar entschlüsselbare Bedeutung für den Menschen. Wie Bernd Siegert herausstellt, sind die telefonischen Meditationen in Das Schloss auch Kommentare zu Sprache und Verkörperung im Zeitalter der technischen Medien: Kafka rückt „den mythischen Ursprung der Sprache (und der Kultur) aus dem Reich des Anthropologischen in ein Reich des Nichtmenschlichen, in dem die Unterscheidung zwischen Sprache und Rauschen ebenso aufgehoben ist wie die zwischen Tier und Mensch […]“2 Dem zeitgenössischen Geist erscheint diese Art der Verschmelzung verschiedener Wirklichkeitsregimes eher in Form der Halluzinationen einer angereicherten Realität des Stadtbildes in Pokemon Go oder in der überfordernden Allgegenwärtigkeit anderer medialer Plattformen, die Arbeits- und Freizeitkontexte ebenso wie den physischen Raum auf Weisen durchkreuzen, die ein ähnliches Gefühl der Wehrlosigkeit und Entmächtigung hinterlassen, wie K. es erfährt. Technische Infrastrukturen sind auch die materiellen Strukturen, in denen Menschen und Nichtmenschen sich regelmäßig begegnen.

Indem wir ausschlaggebende Konzepte wie das Postdigitale anbringen, entwickeln wir Möglichkeiten, um diese infrastrukturelle Gestaltung von Wirklichkeit zu erfassen und in sie zu intervenieren. Das Konzept und die verschiedenen Positionen, die es in praktischen und theoretischen Feldern umgeben, weisen in Richtung eines solchen Potenzials. Denn sie erkennen an, dass wir unvermeidlich inmitten solcher Praktiken und Infrastrukturen eingebettet sind, auch wenn sie nicht alle nach dem gewohnten, anthropozentrischen Maßstab erscheinen oder operieren.

Dieser transmediale-Reader, der in Verbindung mit dem 30-jährigen Jubiläum des transmediale-Festivals publiziert wird, behandelt die Reaktionen der Medienkunst und -theorie auf diese Veränderungen. Sein spezifischer Bezug auf Medienaktivismus, Medienarchäologie, kritische Medienprozesse und (post)anthropozentrische Perspektiven bietet verschiedene, einander ergänzende Strategien der Auseinandersetzung mit diesen provokativen, gegenwärtigen Überlegungen.3 Der Reader skizziert die Notwendigkeit des Postdigitalen als einer Heuristik zum Verstehen der historischen und materiellen Kontexte von Medienkunst und -kultur und bietet künstlerische und analytische Herangehensweisen an die gegenwärtige Situation. So wie die postmoderne Diskussion eine zeitliche und intellektuelle Position im Verhältnis zur Moderne abgesteckt hat, ohne die Annahme, diese notwendigerweise abgelöst zu haben, versuchen wir mit dem Postdigitalen eine solche zeitliche und kritische Distanz vom Digitalen, während wir von diesem in Teilen bestimmt bleiben.4

Der Begriff des Postdigitalen ist eng verwandt mit transversalen künstlerischen Praktiken, die bis vor Kurzem als Medienkunst bezeichnet worden wären, sich aber nun neuen Perspektiven außerhalb dieses institutionalisierten Feldes öffnen, wie das Präfix „trans“ (d.h. „hindurch“ und „darüber hinaus“) in „transversal“ anzeigt. Olga Gorinuova legt in ihrem Kapitel über das „Technologische Makrobiom“ in diesem Reader nahe, dass Transversalität durch eine Dazwischen-Materialität hindurch funktioniert, die durch die Vergrößerung bestehender Praxislinien hervortritt. Eine solche Perspektive nützt einer Annäherung an viele der jüngeren, aufkommenden Praktiken von Künstler_innen und Designer_innen, die sich nicht unbedingt mit dem Begriff der „Medienkunst“ identifizieren und stattdessen die Technologie mit Methoden ineinander greifen lassen, die von transversalen Ökologien und von Materialismen des Menschlichen und Nichtmenschlichen geprägt sind.

Dieser Reader spiegelt also auch einen fortwährenden Wandel innerhalb der künstlerischen Kulturen rund um ein langjähriges Medienkunst-Festival wie die transmediale wider. Dieser Wandel hat verschiedene Ursachen: Einerseits ist der Begriff der „Medien“ überhöht und so generisch verwendet worden, dass er beinahe überflüssig geworden ist.5 Zugleich hat sich der Umfang von „Medien“ in kritischer Medienforschung derart erweitert, dass er verschiedene Wissens- und Schreibpraktiken umfasst – von Hindu-Arabischer Numerik bis zu Rechenmethoden und Karteien. Auch architektonische Elemente wie Türen können als Medien gezählt werden, ebenso das Postsystem.6 Außerhalb der klugen Urbanität der Smart City können wir zumal geologische Formationen und Materialien wie Matsch oder gar Thermokulturen in den Blick nehmen. Denn Medien bauen auf bestehenden planetarischen Materialitäten und Erfordernissen auf und funktionieren auf ihrer Grundlage.7 Es ist kein Wunder, dass viele Kunst- und Designpraktiken sich nicht mit den Medien als Industrie identifizieren wollen und sich Vermittlungsprozessen zuwenden, die durch andere Bedingungen bestimmt und durch weniger verdinglichte Konzepte kritisch eingebunden werden können.

Im besten Fall ist Medienkunst ein Platzhalter, der auf Spezifizierung wartet. Wieder ist neues Material in die Räume kritischer Praxis und Produktion eingegangen und das Atelier hat eine Reihe neuer Werkzeuge und Technologien aufgenommen, die bei einigen dazu geführt haben, sich als Labore zu verstehen. Während der Begriff von den Naturwissenschaften abgeworben ist, betont seine Verwendung die experimentellen und zufälligen Elemente ästhetischer Erkundung, wie Jussi Parikka in diesem Band bespricht. Und außerhalb des Ateliers verbinden sich künstlerische Praktiken mit städtischen und globalen Infrastrukturen und anderweitigen erweiterten Stätten der Praxis, die einen weiteren Aspekt anerkennen: Die Materialität des Digitalen ist nicht auf den Bildschirm, die Software, nicht einmal auf die Hardware reduzierbar. Es handelt sich um eine enorm verteilte Wirklichkeit, die wiederum unsere wahrgenommene Wirklichkeit aufbereitet und bedingt.

Das Postdigitale bietet somit eine Reihe spekulativer Strategien und Poesien in dem Versuch, eine komplexe Architektur des Denkens und Kreierens innerhalb der zeitgenössischen institutionellen, ökonomischen, ökologischen und technologischen Beschränkungen und Möglichkeiten zu bauen. Wie alle zeitgenössischen Fragen, sind diese gegenwärtigen Anliegen jedoch von widerstreitenden zeitlichen Beziehungen durchzogen, die nicht einfach auf die Linearität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgesetzt werden können, ohne dabei das Verständnis der involvierten Komplexitäten ernsthaft zu schädigen. Stattdessen werden sie in diesem Buch zu Anliegen, durch die sich Vergangenheiten wieder geltend machen und Zukünfte überschwappen. Entlang von Fabulationen und Imaginärem treten parallele Zeitleisten hervor. Eine spekulative Haltung gegenüber der Zukunft wird von Spekulationen über die Vergangenheit ergänzt. Die im „post“ des Postdigitalen nahegelegten, multiplen Zeitlichkeiten zeigen, wie Transversalität alternative Wege ermöglicht, um simplistische, lineare Kausalität in Narrativen von technologischem und medialem Triumph oder Verhängnis zu untergraben. Kristoffer Gansing tut dies in seinem Essay, indem er zum medialen „Fluchtpunkt“ einer frühen Ausgabe der transmediale zurückkehrt.

Die Standarderzählungen von technologischer Entwicklung, Fortschritt und Determinismus schließen oft Vorstellungswelten aus, die von postdigitalen Interventionen kritisiert und umgestoßen werden. Das Postdigitale wird ein Feld für materielle, aber auch ideelle, alternative Praktiken, die die Vorstellung vom Zeitgenössischen beeinflussen. „Wenn die Zukunft ausgeschlossen erscheint“, schreibt Paul K. Saint-Amour, „verliert Antizipation ihre bedingende Beziehung zu dieser Zukunft: Vormals als fait accompli erachtet, wird ein zukünftiges Ereignis zu einer Kraft in der Gegenwart, die im Vorhinein ihrer Ankunft Auswirkungen produziert.“8 Es ist diese Art der teleologischen Ausschließung von Wissen und Forschung, die der in den spekulativen Artikeln und künstlerischen Beiträgen in diesem Buch angebotene Widerstand gegen Streaming-Kultur und Ökonomien vorausgreifend anzugehen versucht.

Postdigitales Denken und Produzieren verletzt die chronologische Zeit und ihre vielen medialen Repräsentationen. Ähnlich macht die geologische Tiefenzeit die McLuhan-flektierten anthropozentrischen Gestaltungen von Zeitmaßen unwirksam, die Medien einnehmen können.9 Neben einer medientheoretischen Debatte, die sich an aktuelle Kunstdiskussionen über das anthropozäne Zeitalter knüpft, produziert solch eine Arbeit eine neue Sichtweise auf Medien. Sie werden nicht bloß als eine Sache verstanden, sondern als ein Prozess, der seine eigenen Existenzbedingungen selbst beeinflusst, was das Aufkommen alternativer medienkultureller Perspektiven ermöglicht. Die verschiedenen Zeitlichkeiten (und tatsächlich auch Räume), die vom Analogen in Beziehung zum Digitalen eingenommen und produziert werden, bergen die Art kryptischer Macht der Nebeneinanderstellung, die in Collage-Techniken zu finden ist, die im vergangenen Jahrhundert insbesondere in Westlicher Kunst und Ästhetik in ihrer globalen Artikulation so oft mobilisiert wurden. Techniken, die aus früheren Formen der Collage abgeleitet sind, können uns helfen, über die eher antiquierte Obsession mit dem Digitalen und Analogen hinaus zu kommen und uns Diskussionen zuzuwenden, die sich auf neue Weisen mit technischer Medienkultur und den Künsten verbinden. Solche komplexen materiellen Umgebungen oder Gefüge passen nicht in die ordentlichen Kategorien des Digitalen oder Nicht-Digitalen und involvieren eine ganze Reihe von Wirkmächten, Institutionen, Infrastrukturen, Tätigkeiten, Zeichen und Bedeutungen quer durch vielfache Dimensionen der Interaktion.10

In den Arbeiten in diesem Band ist ein kritischer Ausblick wesentlich und wirksam. Ein solcher Ausblick zielt nicht nur darauf ab, gängige Annahmen über den Einfluss von Medien und Technik im Alltagsleben herauszufordern. Es geht auch darum, kulturelle Vorstellungen und Auseinandersetzungen mit technologischen Transformationen zu erfinden, die uns dazu antreiben können, Medientechnologien anders zu nutzen und zu entwickeln. Dieser Band bietet eine Mischung aus neu erstellten Beiträgen sowie Projekten und Artikeln, die zuvor bei der transmediale in Berlin präsentiert wurden und hier in reflexiven Beiträgen hinsichtlich Kunstpraktiken, Kuration und zeitgenössischer (post)digitaler Kultur neu erschlossen werden. Das Festival ist eine maßgebliche Veranstaltung für die Präsentation der Konflikte des Postdigitalen und dieser Reader stellt einige der international bedeutenden Künstler_innen und Autor_innen vor, die über die Jahre daran teilgenommen haben. Besondere Aufmerksamkeit gilt hierbei den letzten fünf Ausgaben.

Der Reader ist jedoch keine Zusammenfassung des Festivalprogramms der vergangenen Jahre, sondern ein alleinstehender Band, der die kuratorischen Ideen im Kern der transmediale in Buchform weiter entwickelt und anschiebt. Er formt eine andere zeitliche Beziehung zwischen diesen Ideen und gibt ihnen einen anderen Weg, Kunst, Design und Akademie zu durchqueren. Dies führt zurück zu unserer breiteren Betrachtung dessen, was ein Festival zu Kunst und digitaler Kultur sein kann und sein sollte. Die Tatsache, dass der unbestimmte Artikel „ein“ (im Gegensatz zum bestimmten Artikel „der“) seinen Weg in den Titel dieses Bandes findet (across & beyond – A transmediale Reader on Post-digital Practices, Concepts, and Institutions), zeigt den Wunsch an, dass es sich um einen Beitrag zu einer fortwährenden Diskussion handelt statt um eine definitive Stellungnahme. Während er an Diskussionen über das Festival als Format und Ort des Postdigitalen teilnimmt, trägt der Band auch zu breiteren Diskussionen in Kunst, Medien und Design über die Arten von Praktiken bei, die wir entwickeln müssen, um zu verstehen zu beginnen, mit welchen Aktionsdimensionen wir es in zeitgenössischer Kultur zu tun haben.

Das Post-Anthropozentrische ist eine Reaktion, doch sie bedarf der Spezifikation: Wenn nicht der Mensch das Zentrum der Handlung ist, was dann? Infrastrukturen, Ökologien, Prozesse? Wie kann diese flüchtige Vorstellung vom Nichtmenschlichen im postdigitalen Zeitalter in Beziehung zu Medien situiert werden? Wie kann solches Kontextualisieren die gleichsam flüchtige Vorstellung von Medien aufdecken? Welche neuen Mittel könnte das Postdigitale bieten, um Technologie, Kultur und Natur kritisch zu verknüpfen? Die im Band versammelten Beiträge verleihen der hier skizzierten postdigitalen Perspektive Nachdruck, wobei die Artikel den Begriff des Postdigitalen nicht unbedingt explizit theoretisieren (oder auch nur erwähnen). Der Fokus liegt hier nicht auf der spezifischen Verwendung oder Kanonisierung des Begriffs, sondern auf den zugrunde liegenden Methodologien und kritischen Überlegungen, die in diesem Konzept enthalten sind. Nichtsdestotrotz möchten wir einige Motivstränge der in diesem Band eingenommenen postdigitalen Ansätze skizzieren, die als Ausgangspunkte dienen können.

 

Motive des Postdigitalen

Die Methodologien und kritischen Überlegungen, die im Begriff „postdigital“ enthalten sind, werden grob in die drei Abschnitte dieses Buches eingeordnet: „Imaginaries“, „Interventions“ und „Ecologies“. Den kurzen Einführungen in jedem Teil folgt eine Mischung aus tiefer gehenden Artikeln und künstlerischen Beiträgen in unterschiedlichen Formaten. Die drei Abschnitte sind vom Diskussionsbedarf darüber geprägt, wie die postdigitale Situation in zeitlichen, handlungsbasierten und systemischen Dimensionen konkreten Ausdruck findet. Die Beiträge nehmen die Herausforderung an, die immer flüchtigen Beziehungen zwischen Technologie, Gesellschaft und Kultur greifbar zu machen, die unseres Empfindens nach im Postdigitalen bis zu einem Punkt beschleunigt werden, an dem nichtmenschliche Gefüge aus Technologie und Natur ihre eigene Wirkmacht entfalten. Anstatt Weltuntergangsszenarien einer außer Kontrolle geratenen, technologischen Welt oder der nächsten Umweltkatastrophe zu wiederholen oder den nahenden Moment der Singularität zu behaupten, in dem Menschen und Maschinen sich schließlich in irgendeiner fiebrigen Cartesianischen Fantasie von der physischen Welt befreien werden, spiegelt die Einteilung des Buches in getrennte aber verflochtene Motivstränge die Komplexität postdigitaler Bedingungen wieder. Anstelle eines naiven Versuchs, vorherzusagen, „was als Nächstes kommt“ oder was „die nächste große Sache“ ist, ist der Begriff des Postdigitalen selbst eine Verbindung zur Weiterführung und Revision früherer Arten der kulturellen Produktion und Diskurse; er weist auf ähnliche Weise wie Post-Kommunismus, Post-Feminismus und Postkolonialismus auf sie hin.11 Der Begriff ermöglicht es uns, die materiellen Komplexitäten der digitalen Kultur zu verstehen – über die Klischees von Nullen und Einsen hinaus, einschließlich der materiellen Instanziierungen von Geräten, die teilweise von Informationsprozessen kontrolliert werden, aber nicht auf ein Fantasma einer immateriellen Datenwirklichkeit reduzierbar sind. Stattdessen kommen scheinbar obsolete Praktiken wieder auf, wie die Zine-Kultur oder analoge Drucktechniken. Hierüber schreibt Alessandro Ludovico in seinem Essay für den Teil des „Imaginären“. Das Digitale selbst wird, sogar in Mainstreamkulturen, auf neue, kritische Weisen infrage gestellt.11

 

Imaginaries

Die aktuelle Hinterfragung des Digitalen und die Aneignung „alter“ technokultureller Praktiken zeigen eine neue Hybridisierung künstlerischer Produktion an, die Florian Cramer 2014 in seinem Text „What is ‚Post-digital‘?“ so treffend beschreibt. Er schreibt:

‚Postdigital‘ ist wohl mehr als nur eine saloppe Beschreibung für einen gegenwärtigen (und womöglich nostalgischen) kulturellen Trend. Es ist eine objektive Tatsache, dass das Zeitalter, in dem wir jetzt leben, kein postdigitales Zeitalter ist, weder im Sinne endloser technologischer Entwicklungen mit dem Trend hin zu weiterer Digitalisierung und Computerisierung, noch aus einer historisch-philosophischen Perspektive.12

Wie schon erwähnt, scheint ‚postdigital‘ die Koordinaten der Debatten rund um technologische Kultur hin zu einer fluideren Bedeutung von Vergangenheit und Zukunft zu verschieben, von Jetzt und Dann, von Materiellem und Immateriellem. Wie Cramer in jenem Essay ebenso wie in seinem Beitrag in diesem Band andeutet, besteht jedoch die Gefahr, dass das Konzept bloß zu einem anderen Namen für eine Epoche wird und ein zeitliches Koordinatensystem einsetzt. Ähnlich ist es Begriffen wie dem Postmodernen ergangen, was dem allgemeinen Impuls hinter der Einführung des Begriffs zuwider läuft.13 Um eine solche Reduzierung zu vermeiden, ist das Imaginäre eine nützliche Perspektive, in der das Postdigitale Konsensmodelle von Wirklichkeit und den techno-rationalistischen Diskurs herausfordert. In diesem Teil erkundet beispielsweise die Künstler_innengruppe YoHa die „grauen Medien“ des Alltags, das heißt, „technische Objekte, die als marginal und rezessiv betrachtet werden können“, die oft langweiligen oder scheinbar banalen Hintergrundobjekte, in denen die Künstler_innen imaginatives Potenzial ausmachen.14

Die Idee des Imaginären hat einen starken Wiederklang mit einem anderen wichtigen Bereich der letzten Jahre, der Medienarchäologie. Sie teilen ein pulsierendes Interesse am Kontinuum von Praxis und Theorie. Beide zielen auf die Entwicklung kritischer Einsichten, die – im Gegensatz zu einer hygienisch-linearen Vorstellung von medienkulturellem Fortschritt – durch alternative Vorstellungen von Zeit funktionieren. Medienarchäologie hat dies durch Fallstudien und Methodologien eingebracht, die sich Medienkultur als einem zyklischen, mikro-zeitlichen oder gar tiefenzeitlichen Regime der kulturellen Produktion zuwenden.15 Baruch Gottlieb und Dmytri Kleiner, Mitglieder der Kunstgruppe Telekommunisten, beschreiben ein Projekt aus ihrer Reihe der Miscommunication Technologies, das eine druckluftbetriebene Nachrichtensystemtechnologie neu imaginiert und gewissermaßen eine relationale Maschine wird. Auf ähnliche Weise reflektiert Rosa Menkmans Beitrag im Anschluss an ihre Performance The Collapse of PAL, was in Übersetzung verloren geht, wenn eine relationale Maschine von einem anderen, „neueren“ Medium abgelöst wird.

Die Betrachtung von Mediengeschichte und zeitgenössischer Kultur in einem rekursiven Zusammenhang eröffnet eine ähnliche Agenda und eine Konversation zwischen Medientheorie und postdigitalen Praktiken. Die Vergangenheit zu lesen, verändert, wie wir die Gegenwart sehen, und eine Analyse der Gegenwart verändert, wie wir die Vergangenheit verstehen.16 Mit seinem Beitrag spürt Dieter Daniels der Geschichte und kontinuierlichen Historisierung von Medienkunst nach und bespricht sowohl die Anfangsphase des Feldes als auch die spätere Krise im Kontext des Postdigitalen. Mit Blick auf sich verschiebende Begrifflichkeiten schwingt dies mit, wenn Medienkunst zunehmend durch das Konzept der „Art & Tech“ ersetzt wird: In ihrem Beitrag widmet sich Olia Lialina der Verwendung von Wörtern wie „Technologie“, die oft als selbstverständliche Beschreibungen unserer gegenwärtigen Situation verstanden werden, deren Bedeutung sich jedoch eigentlich über die Zeit verschoben hat und instrumentalisiert worden ist. Ein solches Unterfangen zielt nicht bloß auf die Heuristiken der Interpretation, sondern auch darauf, wie wir tatsächlich mit der materiellen Welt um uns herum umgehen und wie die materielle Welt selbst grundlegende Fragen über den Menschen in Kontexten des Affekts und der nicht-bewussten Kognition radikal verändert.

 

Interventions

Medienhistorische Motive werden zum wesentlichen Bestandteil unserer Verhandlung der Gegenwart. Sie werden in eine politische Neuausrichtung einbezogen, die als analytischer Fokus sowie als affektive Stimmung fungiert, die mehr als Kontemplation, Interpretation und Analyse erfordert. Das Erbe der kritischen Kulturwissenschaften und feministischen Forschung wird hier deutlich in Positionen vertreten, die Theorie als Praxis und Praxis als eine situierte Form der Intervention begreifen: Cornelia Sollfrank bietet einen detaillierten historischen Überblick über cyberfeministische Ansätze der Praxis-als-Intervention. Wie die Arbeiten vieler Kunst-Aktivist_innen bezeugen, wird das Handeln immer dringender, während es zugleich mit scheinbar unüberwindbaren Hindernissen konfrontiert ist. Solche Aporien erscheinen für einen Großteil postdigitaler Kunstproduktion zentral. Allein in diesem Buch bieten mehrere der vorgestellten Kunstwerke, wie etwa Geraldine Juárez' Hello Bitcoin oder Julian Olivers und Danja Vasilievs PRISM (im Text „Quarantined“), eine verblüffende Bandbreite an Aufrufen zum (Nicht-)Handeln angesichts der Überschneidung von technologischen und geopolitischen Bedingungen und des unvermeidlichen Widerstands, den sie erfordern. Ein Teil des Erbes von Snowdens Leaks sind zumal deren Auswirkungen auf Netzwerkpolitiken, Medienaktivismus und Interventionen. Wie Clemens Apprich und Ned Rossiter in ihrem Beitrag schreiben: „Post-Snowden gibt es ein viel breiteres Misstrauensempfinden, wenn nicht sogar informierte Kritik, an digitalen Kommunikationsinfrastrukturen als Technologien der Erfassung, die sich weniger durch ihr Alleinstellungsmerkmal voneinander unterscheiden als durch ihre Bedeutungslosigkeit.“ Tatsächlich ist das kritische politische Gewahrwerden über die Netzwerke und ihre Infrastrukturen offenbar, es durchdringt die Mainstream-Öffentlichkeit ebenso wie die Nutzungspraktiken. Für eine Reflexion über das subversive Potenzial von Kunst in der Auseinandersetzung mit neuen Netzwerkpolitiken, siehe Daphne Dragona in diesem Band.

Nutzer_innen sind zunehmend achtsam und in den von ihnen genutzten Systemen involviert, etwa durch Einstellungsänderungen im DNS (Domain Name System), die Verwendung von VPN-Verbindungen, die Installation von Tor und in bestimmten Communitys auch durch die Teilnahme an Verschlüsselungspartys zur Weiterbildung über die Möglichkeiten, den undichten Computer irgendwie unter Kontrolle zu halten. Diese Art des Bewusstseins ging jedoch mit einer breiteren Erkenntnis über die Unzulänglichkeit bestehender politischer Widerstandstaktiken einher, die oft von dem System kodiert oder prognostiziert sind, das selbst das Problem darstellt. Solche Kooptation von technologischem Potenzial bringt Tiziana Terranova dazu, in ihrem Essay für diesen Band „die Konstruktion einer gemeinsam gebräuchlichen maschinellen Infrastruktur“ vorzuschlagen. Sowohl im Sinne der technologischen Plattformen und Lösungen als auch im Sinne der Erfindung neuer Methoden politischen Widerstands, können wir also vom Bedarf postdigitaler Interventionen als „Kunst des Ungehorsams“ sprechen, um eine Formulierung aus Geoffroy de Lagasneries Text zu diesem Thema zu verwenden. Neue politische Figuren wie Edward Snowden, Julian Assange und Chelsea Manning hatten massiven Einfluss auf die Verschiebung des Debattenfokus und die Aufdeckung von Gewaltmechanismen in sogenannten liberalen Demokratien. Nicht bloß als Personifizierungen politischer Fragen stehen diese Akteur_innen dafür, was als politisch zählt. Fragen der Infrastruktur sind Möglichkeiten geworden, die Asymmetrie in Internetpolitiken anzugehen. Es sollte eine leitende Aufgabe bleiben, aufzudecken und zu stören, wie Organisationen und Institutionen systemisch Macht ausdrücken. Tatiana Bazzichelli bietet hier eine wichtige Selbstreflexion, indem sie die Grenzziehungen des Medienkunstfestivals selbst als Institution untersucht und seine Beziehungen zu den umliegenden Netzwerken bespricht. Die Untersuchung von Systemen ist besonders wichtig, wenn es um digitale Formen weicher Macht geht, die von rechnerischen und prognostizierenden Regimes abhängen, die sich selbst als „natürlich“ und selbstverständlich präsentieren. Erica Scourtis poetische Intervention in die Sprache der Prognose mit dem Titel „Think You Know Me“ schafft eine notwendige Reibung gegen diese Regimes.

 

Ecologies

Das eigentliche Natürlich-Werden von Technologie geschieht auf einer grundlegenden Ebene physischer und menschlicher Ressourcen, wie eine der künstlerischen Arbeiten von einem vorherigen Festival untersucht, die in diesem Buch dokumentiert wird: In seinem essayistischen Film Lettres au Voyant (dt. Brief an den Seher) reist Louis Henderson in einer Neuaufführung von Reiseberichten aus der Kolonialzeit zu den Elektroschrotthalden Ghanas. Er setzt der Suche nach Schätzen und Abenteuern die Zerstörung der Umwelt entgegen und macht die unsichtbaren Enden der Wertschöpfungsketten medialer Entwicklung sichtbar. Angesichts der scheinbaren Naturalisierung des Digitalen und dessen Verflechtung mit Geopolitiken und neuen Regimes der Ressourcenausbeutung und des Geo-Engineerings mit planetarischen Auswirkungen, haben Auseinandersetzungen mit den aufkommenden, schmutzigen Informationsökologien, mit dem Menschlichen und Nichtmenschlichen sowie mit technologischer Infrastruktur in den letzten Jahren Verbreitung gefunden. Benjamin H. Bratton nimmt einen anderen Aspekt dieser neuen Ökologien genauer in den Blick und untersucht Human-Bot-Interaktionen in seinem Text in diesem Teil des Bandes. Aus einem anderen Blickwinkel vertieft sich Ryan Bishop in seinem Essay über Fernerkundungssysteme in Fragen der menschlichen und nichtmenschlichen Kognition und versucht, das politische Subjekt in dieser neuen Landschaft zu verorten.

Entsprechend findet das Postdigitale in der Formulierung der „kritischen Infrastruktur“ einen Ausdruck, der von Jamie Allen und David Gauthier auch als Titel für ein Projekt aufgegriffen wurde: ein künstlerischer Forschungs- und Produktionsaufenthalt, in dem sie „spekulierten, was es bedeuten könnte, in die Sedimente einer technologischen Gegenwart ‚hinab‘ und durch sie hindurch zu blicken“. Clemens Apprich und Ned Rossiter bieten einen theoretischen Rahmen für Projekte, die sich selbst um den Begriff herum orientieren. „Infrastrukturen sind kritisch, weil sie immer schon in Krise sind“, schreiben sie in ihrem Beitrag.17 Die Tatsache, dass Infrastruktur unsere Endnutzung zu einer reibungslosen und harmonischen Erfahrung macht, mag für alle, die auch nur entfernt mit der langen Tradition der Erforschung von Infrastruktur vertraut sind, keine Überraschung sein. Doch ist bemerkenswert, wie künstlerische und gestalterische Praktiken sowie zeitgenössische Netzwerktheorie ihren Fokus wieder auf das Thema legen. Infrastruktur als wesentlich zu erachten, richtet die Aufmerksamkeit auf solche Stellen und Prozesse neu aus, an denen verschiedene Maßstäbe aufeinander treffen. Auch menschliche Operatoren, technologische Systeme, die beeindruckende Macht von Standards sowie andere graue Medien kommen so in den Blick, die wirkmächtig werden, wenn Plattformen zu verbreiteten Orten für die Nutzer_innen werden. Somit kommen neue – teils technische, teils politische –Konzepte und Begriffe im Vokabular der Regierungsführung auf.18

Keller Easterling fordert als weiteren Ansatz der Infrastrukturanalysen eine Betrachtung der Disposition von Infrastruktur, anstatt nur von deren Mechanismen und Wirkungen, um die dahinter liegenden Tendenzen und Affekte zu verstehen. Die verschiedenen Beiträge in diesem Band gehen über die bloße Analyse der imperialen Kräfte von Infrastruktur hinaus, die in der gegenwärtigen digitalen Kultur wirksam sind, und bieten theorie- und praxis-basierte Wege, um mit dieser multiskalaren Wirklichkeit umzugehen. Von der Unsichtbarkeit der langweiligen Technologien, die den Fluss des alltäglichen Lebens strukturieren, in YoHas Projekt Evil Media bis hin zur Proklamation eines beschleunigten Zeitalters „additivistischer“ technologischer Praktiken im 3D Additivist Manifesto von Daniel Rourke und Morehshin Allahyari, zelebriert dieser Reader – wie die transmediale selbst – die Mehrdeutigkeit des Postdigitalen und versucht, kritische Verständnisse des Begriffs zu fördern. Diese Ökologie ist kein bloßer Hintergrund, sondern ein aktiver Teil des Herstellens und des Hergestellt-Werdens in einer dynamischen Realität, die ebenso natürlich wie unnatürlich wirkt: aus der Natur und ihren kontinuierlichen technologischen Modulationen hergestellt. Das transmediale-Festival funktioniert dann als eine situierte episodische Struktur, die verschiedene Möglichkeiten inszeniert, diese Ökologie zu verstehen und in sie zu intervenieren.

 

Orte und Zukünfte des Postdigitalen

In diesem Reader werden aufkommende Perspektiven der oben angeführten und weiterer Motive aus ganz unterschiedlichen kritischen Blickwinkeln und Untersuchungsmodi eingenommen. Die Kapitel diskutieren aktuelle Problemstellungen der Medienkunst und kritischen Netzkultur sowie deren Verhältnis zu Forschung, Kunstwelt und Zivilgesellschaft. Im Geiste einer Gegenöffentlichkeit, in dem die transmediale Ende der 1980er Jahre gegründet wurde, möchten wir auch aufzeigen, wie transdisziplinäre Künstler_innen, Forscher_innen und technologische Aktivist_innen eine dringend erforderliche postdigitale Medienbildung fördern können. Diese Aufgabe ist stark an die Evaluation der vielfältigen institutionellen Situationen gebunden, in denen das Postdigitale stattfindet. Über die Jahre hat die transmediale versucht, Ideen und Praktiken zu kuratieren, die über einen längeren Zeitraum hinweg nützlich waren, und das Klischee abgewiesen, dass medientechnologischer Wandel zu schnell gewesen sei (und weiterhin ist), um ihn zu verstehen. Solch eine langfristige Perspektive vermeidet den reduzierenden Ansatz an digitale Kultur, der in etablierten Kulturdebatten so häufig wiederkehrt. Das Kulturprogramm der transmediale ist entlang langfristiger Auseinandersetzungen kuratiert und versucht so, künstlerische Arbeiten auf eine politisch bedeutsame und kritische Weise zu kultivieren. In diesem Prozess ist das Festival eine wichtige langjährige und internationale Plattform für den Austausch zwischen künstlerischer und akademischer Forschung über technologische Entwicklungen und ihren Eingang in breitere öffentliche Bereiche geworden.

Der Kontext der transmediale als Festival aus und in medientechnologischer Kultur hat sich über die Jahre jedoch grundlegend verändert. Selbstverständlich gilt dieser Wandel für alle kulturellen Institutionen, von Museen und Galerien bis zu Archiven, Bibliotheken und Universitäten – alle waren mit dem Eintreten digitaler Technologien in ihre Häuser, Organisationsstrukturen und Tätigkeiten mit neuen Situationen konfrontiert. Neben einem technologischen Wandel in unseren Überlegungen über die Zugänglichkeit von Archiviertem und dessen Bereitstellung, über dessen logistische Platzierung und Bewegung sowie den Status als Objekte eines kulturellen Erbes, müssen diese Veränderungen vor dem Hintergrund der letzten Jahrzehnte der Sparmaßnahmen gelesen werden, welche die national öffentlich finanzierten Bereiche besonders hart getroffen haben. Eine Verschiebung von der gesellschaftlichen Funktion kultureller Institutionen hin zu deren Durchdringung durch private Infrastrukturen und Plattformen (wie das Google Cultural Institute oder in kleinerem Maße die Auslagerung von institutioneller Kommunikation, Ressourcenverwaltung und anderer Systeme an private Anbieter), ist das andere Ende der politisch-ökonomischen Transformation, die unter den kulturellen Marker des Postdigitalen fällt. Kulturinstitutionen als Dateninstitutionen zu verhandeln, ist ein wichtiger – vielleicht notwendiger – Ansatz, doch ebenso entscheidend ist es, Daten in ihrer Einbettung in Situationen der asymmetrischen Machtverhältnisse und komplexen politischen Ökonomien zu verstehen.19 Die postdigitale Untersuchung des belasteten Nexus von kulturellen und akademischen Institutionen im Verhältnis zu staatlichen und nicht-staatlichen Regelungen und Akteur_innen bedarf der Erkundung der transversalen Lücken als Orten der potenziellen Veränderung, Neukalibrierung und kritischen Reflexion.

Mit dem Aufkommen des Digitalen und Postdigitalen sowie der Verfestigung neoliberaler politischer Ökonomien ist die rapide Zunahme von Programmen und Räumen zum kollaborativen Experimentieren mit Kunst und Technologie einhergegangen. Die aktuelle Prominenz von ‚art and technology labs‘ im Kontext des Wiederauflebens einer kollaborativen Praxis in den Künsten involviert nicht nur die Räume von Künstler_innen, sondern auch eine Bandbreite disziplinenübergreifender Gruppierungen unter anderem aus Kontexten wie Design, Natur-, Technik- und Geisteswissenschaften. Der Anstoß zur Zusammenarbeit in den Künsten ist Teil einer Neubewertung der Bedeutung von „Forschung“ durch Kunstpraktizierende angesichts ihres ausgedehnten Engagements in einer Reihe von Kontexten, die über Galerien und Museen hinaus gehen – unter anderem in Universitäten, Privatunternehmen sowie naturwissenschaftlichen und technischen Laboren. Zugleich hat das massive Wachstum des Techniksektors zum Aufstieg einer neuen Generation spekulativer Forschungsunternehmen geführt, von Google bis SpaceX, welche die ausgedehnten Forschungs- und Entwicklungshorizonte der avancierten Kunst teilen.

Sowie diese kollaborativen Praktiken – in einer Zeit der verringerten Finanzierung – als produktiv und profitabel ausgemacht werden, sehen versierte Museen, Galerien, Unternehmen und Universitäten ihre Chance. Unternehmerische Prekarität und eine marginalisierte Avantgarde werden in den neuen Labs zusammengeführt, von denen viele durch die Explosion des digitalen Experimentierens und durch den Diskurs der digitalen Innovationsökonomie ermöglicht werden. Zugleich entstehen die von Stewart Brand und anderen Wegbereiter_innen gefeierten Medientechnologien selbstverständlich weitgehend in militärischer Forschung und Entwicklung. Die Behauptung ist völlig gerechtfertigt, dass im frühen 21. Jahrhundert die Allianzen des Kalten Krieges mit leicht abgewandelten Akteur_innen und Vertreter_innen zusammenlaufen. Die Wiederholungen und Variationen der historischen Laufbahnen zu begreifen, leitet uns zum „post“ des Postdigitalen, um das Rollback der Möglichkeit alternativer – geschweige denn radikaler – Politiken im gegenwärtigen Moment zu untersuchen. Die Chance für echte Forschung, unabhängig von Monetarisierung und Bewaffnung, wird immer flüchtiger. Häufig konterkariert der teleologische Antrieb der naturwissenschaftlichen Methoden unter den Vorwänden der „Problemlösung“ und „unabsichtlichen Entdeckung“ die Umsetzung ihrer ästhetischen, politischen und sozialpädagogischen Ziele durch die radikale Kollektivität. Und wo kann das „politisch Mögliche“ sich aufhalten, wenn avantgardistische „Störung“ das klischeehafte Mantra von Universitäten, Unternehmen und Militär geworden ist? Was für alternative institutionelle Formen können die früheren kritischen und ethisch produktiven Funktionen öffentlicher Institutionen übertragen? Solche Herausforderungen umreißen postdigitale künstlerische Produktion und Theoriebildung und prägen die kritische Richtung dieses Bandes und der fortlaufenden Projekte der transmediale und ihrer Forschungskollaborationen.

Übersetzung aus dem Englischen von Jen Theodor.

 

  • 1. Franz Kafka, Das Schloss. Posthume Erstausgabe im Kurt Wolff Verlag, München 1926; weitere Ausgaben im Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1951 und 1982. Die Übersetzung zitiert aus der online verfügbaren Version: [http://www.digbib.org/Franz_Kafka_1883/Das_Schloss_.pdf] erstellt am 02.02.2011, letzter Zugriff am 28.11.2016. Die Autor_innen zitieren aus der englischsprachigen Übersetzung von Mark Harman: The Castle (New York: Schocken Books, 1998).
  • 2. Bernhard Siegert, „Kakographie oder Kommunikation? Verhältnisse zwischen Kulturtechnik und Parasitentum“. In: Lorenz Engell und Joseph Vogl (Hg.), Archiv für Mediengeschichte 2001: Mediale Historiographien (Weimar: Universitätsverlag, 2001), S. 96. Die Autor_innen zitieren hier aus der englischsprachigen Übersetzung von Geoffrey Winthrop-Young in: Cultural Techniques: Grids, Filters, Doors, and Other Articulations of the Real (New York: Fordham University Press, 2015), S. 28.
  • 3. Der Begriff „postdigital“ wurde erstmalig bei der transmediale 2013 mit der Initiative des Workshops „Postdigital Publishing“ von Alessandro Ludovico, Florian Cramer und Simon Worthington wichtig, der von Alessandro Ludovicos Buch Postdigital Print: The Mutation of Publi¬shing since 1894 (Eindhoven: Onomatopee, 2011) inspiriert war. Seitdem hat sich seine Verwendung weit über den Kontext von Druck und Verlagswesen hinaus verbreitet. Der Ansatz der transmediale teilt jedoch weiterhin die anfängliche Prämisse des Workshops (und des vorangegangenen Buches). So wie Ludovicos Buch die Leser_innen einlud, am Punkt von dessen Transformation – oder gar vermeintlichem Verschwinden – ins Digitale über die Wichtigkeit des Drucks nachzudenken, versucht dieser Sammelband, postdigitale Perspektiven auf verschiedene Aspekte von Medienkultur im Wandel zu bieten.
  • 4. Siehe Florian Cramer, „What Is ‚Post-digital‚?“, in A Peer-Reviewed Journal About 3/1 (2014), [http://www.aprja.net/?p=1318] letzter Zugriff am 28.11.2016.
  • 5. Siehe Siegfried Zielinski, [... nach den Medien] Nachrichten vom ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert (Berlin: Merve, 2011).
  • 6. Bernhard Siegert, Cultural Techniques: Grids, Filters, Doors, and Other Articulations of the Real (New York: Fordham University Press, 2015), S. 7-10.
  • 7. Jussi Parikka, A Geology of Media (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2015). Nicole Starosielski, “The Thermocultures of Geological Media,” Cultural Politics 12:3 (November 2016). Shannon Mattern, “Of Mud, Media, and the Metropolis: Aggregating Histories of Writing and Urbanization,” Cultural Politics 12:3 (November 2016).
  • 8. Paul Saint-Amour, Tense Future: Modernism, Total War, Encylopedic Form (Oxford: Oxford University Press, 2015), S. 12-13.
  • 9. Siehe Parikka, A Geology of Media; siehe auch Siegfried Zielinski, Archäologie der Medien: Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens (Reinbek: Rowohlt, 2002).
  • 10. Diese Haltung erinnert an Schriften wie Matthew Fuller, Media Ecologies: Materialist Energies in Art and Technoculture (Cambridge, MA: MIT Press, 2005).
  • 11. Ebd.
  • 12. Cramer, „What Is ‚Post-digital‘?“ (Hervorhebung im Original).
  • 13. Geoff Cox, „The Postdigital and the Problem of Temporality“, in Postdigital Aesthetics: Art Computation, and Design, Hg. David M. Berry und Michael Dieter (Basingstoke: Palgrave, 2015), S. 151-162.
  • 14. Das Projekt von YoHa auf der transmediale 2013 baute auf dem Konzept der „bösartigen Medien“ auf, wie es Matthew Fuller und Andrew Goffey in Evil Media (Cambridge, MA: MIT Press, 2012) entwickelt haben.
  • 15. Für eine Übersicht siehe Media Archaeology: Approaches, Applications and Implications, Hg. Erkki Huhtamo und Jussi Parikka (Berkeley: University of California Press, 2011). Siehe auch Thomas Elsaesser, Film History as Media Archaeology (Amsterdam: Amsterdam University Press, 2016).
  • 16. Geoffrey Winthrop-Young, „Siren Recursions“, in Kittler Now: Current Perspectives in Kittler Studies, Hg. Stephen Sale und Laura Salisbury (Cambridge: Polity, 2015), S. 91.
  • 17. Siehe auch Alessandra Renzi und Greg Elmer, Infrastructure Critical: Sacrifice at Toronto’s G8/G20 Summit (Winnipeg: Arbeiter Ring Publishing, 2012).
  • 18. Siehe Benjamin H. Bratton, The Stack: On Software and Sovereignty (Cambridge, MA: MIT Press 2016).
  • 19. Das Projekt The Internet of Cultural Things hat Ansätze entwickelt, um die Bibliothek als ein postdigitales Rechensystem zu verhandeln, das sich aus Infrastruktur und Datenströmen zusammensetzt. Durch diese künstlerische Intervention von Richard Wright als Artist in Residence der British Library hat das Projekt neue Methoden für eine situierte, institutionenspezifische Herangehensweise an kulturelle Daten entwickelt. [https://internetofculturalthings.com] letzter Zugriff am 28.11.2016.

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