Sieben Thesen zum Fediverse und Weiterentwicklung von FLOSS
Sieben Thesen zum Fediverse und Weiterentwicklung von FLOSS
Willkommen im Fediverse
Im Zusammenhang der anhaltenden Kritik und allgemeinen Ermüdung rund um großangelegte kommerzielle Social-Media-Plattformen1 hat sich in den letzten Jahren der Wunsch verdichtet, Alternativen zu bauen. Das zeigt die Entstehung einer breiten Auswahl an Projekten, die aus ganz unterschiedlichen Motiven entwickelt wurden. Sie betonen, was sie von kommerziellen sozialen Medien unterscheidet: ihre Ethik, ihre Organisationsstruktur, ihre technologischen Grundlagen, ihre Funktionen, ihr offener Quellcode oder die besonderen Interessengruppen, die sie unterstützen wollen. Trotz ihrer Vielfalt folgen die meisten dieser Plattformen einem gemeinsamen Zweck: Sie hinterfragen unmittelbar den Lock-In-Effekt in den vorherrschenden sozialen Medien. Daher fordern sie verschiedene Ebenen der Dezentralisierung und Interoperabilität hinsichtlich der Netzwerkarchitekturen und der Datenweitergabe. Diese Plattformen sind umgangssprachlich als „Fediverse“ bekannt, ein Kofferwort aus den englischen Begriffen „federation“ (Föderation) und „universe“ (Universum). Die Föderation ist ein aus der politischen Theorie abgeleitetes Konzept. Verschiedene Akteur*innen, aus denen sich ein Netzwerk zusammensetzt, entscheiden sich zur kollektiven Zusammenarbeit. Dabei werden Macht und Verantwortung aufgeteilt. Im Kontext sozialer Medien bestehen föderierte Netzwerke aus verschiedenen Communitys auf verschiedenen Servern, die miteinander kompatibel sind und im Zusammenschluss betrieben werden können, anstatt nur als einzelne Software oder Plattform. Die Idee ist nicht neu, aber sie hat in jüngerer Zeit an Dynamik gewonnen und die Bemühungen neu belebt, alternative soziale Medien zu entwickeln2.
Schon frühere Versuche des Zusammenschlusses alternativer Social-Media-Plattformen kamen aus den Communitys rund um „Free/Libre and Open-Source-Software“ (FLOSS)3. Traditionell waren sie daran interessiert, freie/libre Alternativen zu bestehender unfreier und proprietärer Software anzubieten. Daher wurden diese Projekte ursprünglich dafür beworben, kommerziellen Plattformen in ihren Funktionen ähnlich zu sein, aber auf FLOSS zu beruhen. Da diese Softwareplattformen meist an der Offenheit von Protokollen und Quellcodes ausgerichtet waren, dienten sie einem beschränkten Publikum von Nutzer*innen und Software-Entwickler*innen, die sich mit den üblichen Fragen der FLOSS-Kultur beschäftigten. Diese fehlende Reichweite veränderte sich 2016 mit der Einführung von Mastodon, einer Kombination aus Client- und Server-Software für föderierte soziale Medien. Mastodon wurde schnell von einer vielfältigen Nutzer*innen-Community angenommen. Darunter waren viele Menschen, die üblicherweise im FLOSS-Kontext unterrepräsentiert sind: Frauen, People of Color und Queers. Diese weniger repräsentierten Gruppen hinterfragten dann auch die soziale Dynamik bestehender FLOSS-Umgebungen. Ihr Beitrag von Code und Kritik forderte das vorherrschende, universalistische Narrativ heraus, das auch den kommerziellen sozialen Medien zugrunde liegt: ein allgemeingültiges Modell, das für alle passen soll. Es ist kein Zufall, dass diese Verschiebung nach der Gamergate-Kontroverse in 20144, dem Aufstieg der rechtsextremen ‚Alt-Right‘-Bewegung und der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl 2016 folgte. Ende 2017 zählte Mastodon mehr als eine Million Nutzer*innen, die das Fediverse als Alternative zu kommerziellen Social-Media-Plattformen ausprobieren wollten. Hier konnten sie selbst erfahren, ob eine andere Infrastruktur zu anderen Diskursen, Kulturen und geschützteren Räumen führen würde.
Heute umfasst das Fediverse mehr als dreieinhalb Millionen Konten, die über knapp 5000 Server verteilt sind. Diese werden als „Instanzen“ bezeichnet und nutzen Software-Projekte wie Friendica, Funkwhale, Hubzilla, Mastodon, Misskey, PeerTube, PixelFed und Pleroma – um nur einige zu nennen5. Die Server bzw. Instanzen können miteinander verbunden werden und fokussieren meist auf eine bestimmte Praxis, Ideologie oder berufliche Tätigkeit. Hiermit beweist das Fediverse, dass eine Verschiebung von universellen und gigantisch großen sozialen Netzwerken hin zu kleinen, miteinander verknüpften Instanzen nicht nur technisch möglich ist, sondern auch einen konkreten Bedarf erfüllt.
Die aktuelle Beliebtheit des Fediverse hängt wohl mit zwei parallelen Tendenzen zusammen. Erstens gibt es ein Interesse daran, sich mit spezifischen technischen Entscheidungen auseinanderzusetzen, sowie zunehmend Bedenken hinsichtlich geschlossener Protokolle und proprietärer Plattformen. Zweitens ist die Bereitschaft gestiegen, die eigene Handlungsfähigkeit als Nutzer*in von Infrastrukturen der sozialen Medien wiederzuerlangen. Genauer gesagt haben kommerzielle soziale Medien es zwar vielen ermöglicht, Inhalte ins Netz zu stellen; doch die größte Auswirkung des Web 2.0 war die offensichtliche Entkopplung der Infrastruktur von Fragen der sozialen Organisation. Die Mischung aus Betriebssystemen und sozialen Systemen, aus der die frühe Netzkultur entstand6, wurde von einem System der beschränkten „Nutzerrechte“ und „Vorrechte“ ersetzt. Jene, die am Fediverse arbeiten, versuchen diese Entkopplung rückgängig zu machen. Sie wollen zu Netzwerkinfrastrukturen beitragen, die ehrlicher mit den ihnen zugrundeliegenden Ideologien umgehen und sich nicht hinter manipulativen und wahnhaften Vermarktungen von Ideen wie Offenheit, universellem Zugang oder unpolitischer technischer Entwicklung verstecken. Es ist zwar noch zu früh, um vorherzusehen, ob das Fediverse den Erwartungen seiner Bewohner*innen entsprechen wird und wie es sich langfristig auf FLOSS im Allgemeinen auswirken kann. Doch können wir bereits aktuelle Veränderungen und Herausforderungen nachzeichnen, die in der letzten Episode der unendlichen Geschichte der Netz- und Computerkulturen aufkamen. Dafür stellen wir sieben Thesen über das Fediverse und die Entstehung von FLOSS auf und hoffen, hiermit Diskussionen über einige der dringendsten Fragen zu eröffnen.
1. Das Fediverse als Übergang von den Memekriegen zu den Netzwerkkriegen
Wir erkennen, dass jedes sinnvolle Nachdenken über heutige Netzkultur sich auf die eine oder andere Weise mit Memen auseinandersetzen muss. Doch was ist dieser Diskussion im Jahr 2020 noch hinzuzufügen? Es scheint, als seien alle Argumente sowohl von Akademiker*innen als auch von Künstler*innen bereits vorgebracht, gekontert und überbeansprucht worden. Was bleibt zu tun, außer sich kontinuierlich auf dem letzten Stand der neuen Memtypen und ihrer Bedeutungen zu halten? Ein oft übersehener aber entscheidender Aspekt ist, dass Meme nicht im luftleeren Raum existieren. Es gibt Systeme, die ihre Verbreitung und Verstärkung ermöglichen: Social-Media-Plattformen.
Social-Media-Plattformen haben die Demokratisierung der Memproduktion und -zirkulation auf ein bis dahin ungekanntes Maß gesteigert. Zudem sind diese Plattformen in Symbiose mit der Online-Memkultur groß geworden. Kommerzielle Social-Media-Plattformen wurden optimiert und technisch so gestaltet, dass sie besonders für Mem-Material geeignet sind. Dieses Material ermutigt zur Reaktion und Weiterverbreitung. Seine Förderung gehört zur Strategie der Nutzer*innenbindung und -teilhabe im Überwachungskapitalismus. Folglich ist in den Umgebungen, die heute für einen Großteil der Onlinekommunikation genutzt werden, fast alles zum Mem geworden oder muss Memeigenschaften aufweisen, um im Universum der algorithmischen Zeitleisten und metrisch hervorgebrachten Feeds zu bestehen oder sichtbar zu sein7.
Soziale Medien sind auf Kommunikation und Interaktion ausgerichtet. Daher wurde völlig unterschätzt, wie Meme so viel mehr werden konnten als entweder strategisch gestaltete Träger von Ideen oder witzige virale Bildchen, die mit Gleichgesinnten geteilt werden können. Sie sind zu einer Sprache geworden, einer Art Slang, einer Sammlung von Zeichen und Symbolen, durch die sich kulturelle und subkulturelle Identität herausbilden kann. Die Verbreitung solcher Meme hat wiederum bestimmte politische Diskurse gestärkt, was den Plattformen zunehmend Schwierigkeiten bereitet. Um die Aktivität ihrer Nutzer*innen maximal ausbeuten zu können, müssen Social-Media-Plattformen das richtige Gleichgewicht zwischen Laisser-faire und Regulierung finden. Sie versuchen das durch algorithmische Filter, Community-Feedback und Nutzungsbedingungen. Die kommerziellen Plattformen
sind jedoch immer stärker damit konfrontiert, dass sie Petrischalen geschaffen haben, in denen allerlei Meinungen und Überzeugungen unkontrolliert zirkulieren. Das geschieht trotz ihrer Bemühungen, den von Nutzer*innen erzeugten diskursiven Inhalt zu reduzieren und zu prägen und stattdessen mehr unbedenkliches, geschäftsfreundliches und anderweitig triviales Material zu fördern. Egal, was diese Plattformen in PR-Kampagnen oder Anhörungen vor Gesetzgeber*innen vorgeben – es ist klar, dass kein Maß an technischem Solutionismus oder an ausgelagerter prekärer Arbeit durch traumatisierte menschliche Moderator*innen8 ihnen dabei helfen wird, wieder gänzlich die Kontrolle zu erlangen.
Als Folge der zunehmenden Überwachung durch Social-Media-Plattformen sind all jene, die in diesen Umgebungen ausgeschlossen oder verletzt werden, erst recht daran interessiert, auf andere Plattformen umzuziehen, die sie selbst kontrollieren können. Die Gründe für diesen Umzug unterscheiden sich stark. LSBTIQ-verbundene Gruppen suchen geschütztere Räume, um Online-Schikane und Belästigung zu entgehen. Aber auch rassistische Gruppen suchen nach Plattformen, wo ihre Auslegung der freien Meinungsäußerung unangefochten bleibt. Raddle, ein linksradikaler Klon von Reddit, ist aus der Verbannung seines ursprünglichen Reddit-Forums entstanden; Rechtsextreme haben Voat als ihren Reddit-Ersatz eingerichtet9. Beide haben nach ihrem Ausschluss aus Reddit ihre eigene FLOSS-Plattform entwickelt. Während der Zugang zum Quellcode und das Prinzip von FLOSS in all diesen Bemühungen wertgeschätzt werden, bleibt der zentrale historische Vorteil von FLOSS-Praktiken überraschenderweise unbeachtet: die Möglichkeit, wechselseitig von der Arbeit der jeweils anderen zu profitieren und darauf aufzubauen. Gerade scheint es darum zu gehen, die gleiche Software für ein begrenztes Publikum zu schreiben und dabei sicherzustellen, dass der Quellcode nicht mit Beiträgen aus einer anderen Community beschmutzt ist. Das ist eine neue Entwicklung in FLOSS-Communitys, die schon oft argumentiert haben, dass ihre Arbeit unpolitisch sei10. Deshalb müssen wir auch über Social-Media-Plattformen sprechen, wenn wir heutzutage über Meme sprechen. Wir müssen diese Umgebungen thematisieren, die im Guten wie im Schlechten die Sedimentierung von Wissen zulassen: Durch die Feedbackschleifen, in denen sich memetische Gefüge bilden, versammelt sich ein bestimmter Diskurs online, der ebendiese Art von Gemeinschaft anzieht und stärkt. Wir müssen darüber sprechen, wie dieser Prozess von FLOSS ermöglicht wird und sich zugleich auf die Wahrnehmung von FLOSS auswirkt.
Kommerzielle Social-Media-Plattformen haben entschieden, alles zu entfernen, was ihr Geschäft gefährden könnte. Zugleich bleiben sie ambivalent hinsichtlich ihres Anspruchs der Neutralität. Doch anders als der radikale Weggang ins Exil des Software-Schreibens, den einige Communitys praktizieren, bietet das Fediverse ein riesiges System, in dem Communitys unabhängig sein können und dennoch über mehrere Server mit anderen verbunden sind. In einer Situation, in der entweder Zensur oder isolierter Exodus als einzige Optionen erschienen, eröffnet die Föderation einen dritten Weg. So kann eine Community mit einer anderen Plattform im Austausch oder Konflikt stehen und zugleich ihrer eigenen Reichweite, Ideologie und Interessenlage treu bleiben. Von hier aus sind zwei Szenarios möglich: Im ersten Szenario könnte eine verortete Online-Kultur etabliert und angeeignet werden, die Teil der Diskurszirkulation in einem größeren gemeinsamen Kommunikationsnetzwerk ist. Im zweiten Szenario würde radikalisiertes memetisches Material wohl das Denken entlang der Achsen von Freund und Feind bevorzugen. Dessen Verbreitung über die Instanzen könnte dann das Ausmaß annehmen, dass simplistische Memkriege und Propaganda durch ausgewachsene Netzwerkkriege ersetzt würden.
2. Das Fediverse als andauernde Kritik an vermeintlicher Offenheit
Die Konzepte der Offenheit, Universalität und freien Zirkulation von Informationen sind zentrale Narrative in der Bewerbung von technischem Fortschritt und Wachstum im Internet und Web. Während diese Erzählungen wichtig waren, um FLOSS und eine freiheitliche Netzkultur zu fördern, waren sie auch wesentlich in der Entwicklung sozialer Medien. Hier war das Ziel, immer weiterwachsende Netzwerke zu schaffen, die immer mehr Menschen umfassten, die frei miteinander kommunizieren könnten. Liberalen Traditionen folgend wurde dieser Ansatz für förderlich für einen produktiven Meinungsaustausch gehalten, da er ausreichend Raum für freie Meinungsäußerung, Zugang zu mehr Information und die Möglichkeit für alle zur Teilhabe bot. Doch waren diese offenen Systeme auch dafür offen, vom Markt gefangen genommen zu werden, und sie waren der räuberischen Unternehmenskultur ausgesetzt. Im Fall des Webs hat dies zu Geschäftsmodellen geführt, die sowohl die Strukturen als auch die Inhalte von Netzwerken ausbeuten11. Wir spulen vor ins Jetzt: Kommerzielle soziale Medien sind führend in der Überwachung von Einzelpersonen und der Vorhersage ihres Verhaltens – sie sollen von Produkten und Ideologien überzeugt werden.
Historisch wollten alternative Social-Media-Projekte wie GNU Social und genauer Identi. ca/StatusNet diese Situation zurückgewinnen, indem sie Plattformen schufen, die diese spezifische Form der gut vermarkteten Offenheit angriffen. Sie entwickelten miteinander kompatible Systeme, die sich ausdrücklich gegen Werbung und Tracking positionierten. Sie hofften, dadurch zu beweisen, dass es noch immer möglich ist, ein stets wachsendes Netzwerk zu betreiben, dabei die Verantwortung über das Dateneigentum zu verteilen und theoretisch verschiedenen Communitys die Mittel bereitzustellen, damit sie sich den Quellcode der Plattform aneignen und zur Protokollgestaltung beitragen können. Das war in etwa die Überzeugung im Fediverse im Jahr 2016. Diese Überzeugung blieb unangefochten, weil das Fediverse sich damals noch nicht stark verändert hatte gegenüber seiner frühen Zeit als Social-Media-Föderationsprojekt, das mehr als ein Jahrzehnt zuvor gegründet worden war. Folglich bestand es aus einer weitgehend homogenen Gruppe von Menschen, deren Interesse sich bei Technologie, FLOSS und antikommerziellen Ideologien traf. Als die Bevölkerung des Fediverse jedoch vielfältiger wurde, da Mastodon heterogenere Communitys anzog, kamen Konflikte zwischen den verschiedenen Gemeinschaften auf. Dieses Mal war es die Vorstellung der Offenheit im Fediverse selbst, die von den Neuankömmlingen zunehmend infrage gestellt wurde. Zur Kritik gehörte eine Forderung unter den Nutzer*innen von Mastodon, bestimmte andere Server im Fediverse-Zusammenschluss sperren oder sich von ihnen „entföderieren“ zu können. Sperren bedeutet, das Nutzer*innen oder Admins von Servern verhindern können, dass sie von Inhalten der gewählten anderen Server im Netzwerk erreicht werden. „Entföderation“ – also eine Auflösung des Zusammenschlusses – wurde hier eine zusätzliche Option im Werkzeugkasten der stark community-orientierten Moderation, da sie die Konfrontation mit unerwünschtem und verletzendem Inhalt verhinderte.
Zuerst verursachte die Einführung der „Entföderation“ starke Reibung mit Nutzer*innen anderer Fediverse-Software. Regelmäßige Beschwerden, dass Mastodon „die Föderation zerstöre“, unterstreichen, inwiefern der Schritt als Bedrohung für das ganze Netzwerk empfunden wurde12. Aus dieser Perspektive würde das Netzwerk nur zur erfolgreichen Alternative zu kommerziellen sozialen Medien, wenn es größer und vernetzter werden könnte. Auf ähnliche Weise sahen viele das Sperren der Übertragung von bestimmten Inhalten als Einschränkung der persönlichen Ausdrucksmöglichkeiten und des konstruktiven Austauschs von Ideen. Sie befürchteten die Entstehung von Filterblasen und Isolierung als Folgen. Die Communitys, die danach strebten, ausgewählte Verbindungen auflösen zu können, und die Vorstellung hinterfragten, dass Online-Debatten notwendigerweise produktiv sind, stellten auch die breitere liberale Annahme der Offenheit und Universalität infrage, auf der vorherige Fediverse-Software aufbaute.
Die Tatsache, dass das Fediverse nach diesen Entwicklungen (und zum Zeitpunkt des Schreibens) von 200.000 auf 3,5 Millionen Nutzungskonten anwuchs, ist wahrscheinlich kein Zufall. Statt das Netzwerk auszubremsen, haben Entföderation, selbstverwaltete Communitys und die Abkehr von Universalitätsansprüchen dazu geführt, dass das Fediverse noch mehr Gruppen aufnehmen kann. Die Gegebenheit verschiedener Server, die für sehr eigene Communitys stehen, die alle ihre lokale Kultur und Handlungsfähigkeit über ihr Stückchen vom Netzwerk haben, ohne vom großen Ganzen isoliert zu sein, ist einer der interessantesten Aspekte des Fediverse. Allerdings resultieren beinahe eine Million der gesamten Accounts aus dem Wechsel der rechtsextremen Plattform Gab zu den Fediverse-Protokollen. Das zeigt auch, dass das Netzwerk noch immer dafür offen ist, sich von einer einzigen großen Gruppe gefangen nehmen oder dominieren zu lassen13. Zur gleichen Zeit hat diese Entwicklung eine Reihe von Bemühungen ausgelöst, die Möglichkeiten von Servern zu stärken, mit dieser Gefahr der Vorherrschaft umzugehen. Ein Beispiel ist die Möglichkeit einiger Server- Implementierungen, sich auf der Grundlage von Positivlisten zusammenzuschließen, was es Servern ermöglicht, sich ausdrücklich per Zustimmung (opt-in) – statt schon bei fehlender Absage (opt-out) – zu verbinden. Ein weiterer Reaktionsvorschlag ist die Erweiterung von ActivityPub, einem der beliebtesten und meistdiskutierten Protokolle des Fediverse. Strengere Authorisierungsmethoden auf Grundlage eines Objektberechtigungsmodells der Computersicherheit ermöglichen es den Parteien, nachträglich das Einverständnis dafür zurückzuziehen, dass andere Parteien ihre Daten einsehen oder nutzen können. Einzigartig am Fediverse ist diese sowohl technische als auch kulturelle Anerkenntnis, dass Offenheit ihre Grenzen hat und selbst je nach Kontext und Zeitpunkt ganz unterschiedlich interpretiert werden kann. Das ist ein grundlegend neuer Ausgangspunkt, um heute soziale Medien neu zu denken.
3. Das Fediverse als Online-Ort für agonistischen Pluralismus
Wie wir schon erklärt haben, ist eine der wichtigsten Eigenschaften des Fediverse, dass die verschiedenen Software-Stacks und die Anwendungen, aus denen sie sich zusammensetzen, von praktisch allen Personen zu jeglichem Zweck gehostet werden können. Das bedeutet, es ist möglich, eine Online-Community zu schaffen, die Schnittstellen mit dem Rest des Fediverse haben kann, aber entsprechend ihrer eigenen lokalen Regeln, Leitlinien, Organisationsformen und Ideologie funktioniert. In diesem Prozess kann jede Community sich selbst nicht nur durch ihre eigene memetische Sprache, ihre eigenen Interessen und ihren eigenen Umfang definieren, sondern auch in Beziehung zu den anderen, durch Differenz. Solche Spezifität lässt das Fediverse wie ein infrastrukturelles Gefüge erscheinen, das den Prinzipien eines agonistischen Pluralismus folgt. Agonistischer Pluralismus oder Agonismus wurde begrifflich zuerst von Ernesto Laclau und von Chantal Mouffe geprägt, die dann diese politische Theorie weiterentwickelte. Für Mouffe ist politischer Konsens unmöglich und radikale Negativität in einem System unvermeidbar, in dem Diversität auf ähnliche wettstreitende Gruppen in derselben hegemonialen Ordnung begrenzt ist14. Mouffes These adressiert demokratische Systeme, aus denen solche Politiken systematisch ausgeschlossen sind, die außerhalb dessen liegen, was der liberale Konsens als akzeptabel erachtet. Doch ist dieser Prozess auch auf kommerziellen Social-Media-Plattformen sichtbar: darin, wie sie den Diskurs prägen und steuern, um innerhalb der Grenzen des für das liberale Paradigma Akzeptierbaren zu bleiben, das an ihren eigenen geschäftlichen Interessen ausgerichtet ist. Das hat zur Radikalisierung derer beigetragen, die hiervon ausgeschlossen werden.
Agonismus meint, dass ein System, in dem ein Pluralismus der Hegemonien gestattet ist, es ermöglicht, die anderen nicht als Feinde, sondern als politische Gegner wahrzunehmen. Hierfür müssen sich verschiedene Ideologien durch verschiedene Kanäle und Plattformen materialisieren dürfen. Eine wichtige Vorbedingung ist, dass das Ziel des politischen Konsens’ verabschiedet und mit einem konflikthaften Konsens – einem Konsens im Widerstreit – ersetzt wird. Hierin wird die Anerkennung der anderen zum Grundbaustein neuer Beziehungen. Das kann beispielsweise bedeuten, nicht-Westliche Sichtweisen auf Demokratie, Säkularismus, Gemeinschaft und das Individuum zu akzeptieren. Ins Fediverse übersetzt, ist deutlich, dass hier bereits eine relativ diverse politische Landschaft besteht. Hier können wir solche Übergänge von politischem Konsens zu konflikthaftem Konsens darin erkennen, wie Communitys sich aufeinander beziehen. Diese konflikthaften Auseinandersetzungen beruhen auf verschiedenen Perspektiven hinsichtlich der kollektiven Gestaltung und Nutzung des Software-Stacks und der zugrundeliegenden Protokolle, die erforderlich wären, um irgendeinen weiteren agonistischen Pluralismus online zu ermöglichen.
Allerdings wurde über die genannte Nutzung der Sperrfunktion und der Entföderation von Instanzen heftig diskutiert. Zum Zeitpunkt des Schreibens sind die Fraktionen der radikalen Linken und der rechten Alt-Right-Bewegung scheinbar unüberbrückbar zugegen. Diese Wirklichkeiten des Antagonismus werden extrem schwer zu lösen sein. Das Selbstverständnis des Fediverse als ein System, in dem verschiedene Communitys unter anderen einen Platz für sich finden können, wurde im Juli 2019 konkret herausgefordert, als die ausdrücklich rechtsextreme Plattform Gab verkündete, dass sie ihre Code-Basis wechseln, von ihrem proprietären System abrücken und stattdessen Mastodons Quellcode nutzen werde. Als Projekt, das ausdrücklich gegen die Ideologie auf Gab Stellung bezieht, war Mastodon mit der Neutralität der FLOSS-Lizenzen konfrontiert. Weitere Fediverse-Projekte wie die Mobilfunk- Clients FediLab und Tusky hatten dasselbe Problem. Das wurde womöglich dadurch verstärkt, dass das Entwicklungsteam von Gab direkt durch die Verbannung aus den App- Stores von Apple und Google zum Wechsel auf Fediverse-Software getrieben worden war. Die Unternehmen hatten Gab aufgrund der Verletzung ihrer Nutzungsbedingungen entfernt. Indem Gab auf generische FLOSS-Fediverse-Clients setzte, würde es sich solchen Verboten künftig entziehen und zudem Bündnisse mit anderen ideologisch kompatiblen Instanzen im Fediverse eingehen können15. Als Teil einer größeren antifaschistischen Strategie, um Gab im Fediverse keine Plattform zu bieten und den Wechsel zu blockieren, gab es Aufrufe an Software-Entwickler*innen, Code hinzuzufügen, der ihre Clients davon abhalten würde, sich bei Gab-Servern anzumelden. Hieraus entstanden umfassende Debatten über das Wesen von FLOSS, über die Wirksamkeit solcher öffentlichen Quellcodeveränderungen, die leicht wieder bearbeitet oder rückgängig gemacht werden können, sowie über die politische Ausrichtung von Software-Instandhalter*innen.
Im Kern dieses Konflikts liegt die Frage der Neutralität des Codes, des Netzwerks und der Protokolle. Wenn er es überhaupt kann, sollte ein Client neutral sein? Bedeutet der verstärkte Einsatz für Neutralität an dieser Stelle, dass die Instandhalter*innen rechte Ideologie dulden? Was bedeutet es, eine andere Instanz zu sperren oder nicht zu sperren? Diese letzte Frage hat ein kompliziertes Hin und Her geschaffen, wobei manche Instanzen von anderen Instanzen fordern, ausdrücklich an einem Konflikt teilzunehmen, indem sie bestimmte andere Instanzen sperren, um zu vermeiden, selbst gesperrt zu werden. Neutralität ist schwer zu erreichen – egal wodurch sie motiviert ist: durch Uneindeutigkeit, unausgesprochene Unterstützung, Heuchlerei, den Wunsch, zu provozieren, einen Mangel an Interesse, Glauben an apolitische Technologie oder den agonistischen Wunsch, alle Seiten einzubeziehen, um einen Zustand des konflikthaften Konsens zu erreichen. Das Fediverse ist derzeit die Umgebung, die einem vielfältigen globalen Netzwerk aus lokalen Singularitäten am nächsten kommt. Doch seine komplexe Topologie und die Schwierigkeit im Umgang mit dem berüchtigten Paradox der Toleranz – also dem Umgang mit der Grundidee der freien Meinungsäußerung – zeigt, wie schwer es ist, einen Zustand des konflikthaften Konsens zu erreichen. Es zeigt sich hier auch die Herausforderung, eine Theorie des Agonismus in eine gemeinsame Strategie für die Gestaltung von Protokollen, Software und Community-Leitlinien zu übersetzen. Toleranz und freie Meinungsäußerung sind nach beinahe zwei Jahrzehnten der politischen Manipulation und Filterung in kommerziellen sozialen Medien zu explosiven Themen geworden. Das Scheitern beliebter Imageboards und Diskussionsforen, diese Probleme zu lösen, gibt kaum Hoffnung für künftiges Experimentieren.
Anstatt einen Zustand des agonistischen Pluralismus zu erreichen, könnte das Fediverse vielleicht bestenfalls einen unechten Agonismus durch Versäulung schaffen. Soll heißen: Wir könnten eine Situation erleben, in der Instanzen große agonistische Ansammlungen ohne Agonismus bilden, in denen nur ideologisch und technisch kompatible Communitys und Software zusammenkommen; von denen wiederum nur sehr wenige bereit sind, Brücken zu radikal gegenüberstehenden Systemen zu schlagen. Unabhängig von ihrem Ausgang ist diese Frage des Agonismus und der Politik im Allgemeinen entscheidend für Netz- und Computerkulturen. Im Kontext Westlicher postpolitischer Systeme und der Art, wie sie sich ins Internet übertragen, hat ein Gefühl des Verlustes von politischer Parteinahme und Handlungsfähigkeit zu der Täuschung oder Einbildung geführt, dass es keinen politischen Kompass mehr gebe. Wenn uns das Fediverse irgendetwas lehrt, dann ist es die Erkenntnis, dass das Netz und die FLOSS-Komponenten seiner Infrastruktur nie politisierter waren als heute. Die Politiken, die im Fediverse erzeugt und beherbergt werden, sind nicht trivial, aber sie werden deutlich formuliert. Zudem zeigt die Verbreitung von Social-Media- Politberühmtheiten und der Nutzung sozialer Medien durch Politiker*innen, dass eine neue Form der repräsentativen Demokratie entsteht, in der die memetische Sprache der postdigitalen Kulturen wirksam in die Welt der Wahlpolitik übersetzt wird und andersherum16.
4. Das Fediverse als Verschiebung von einem technischen zu einem gesellschaftlichen Verständnis von Datenschutz
In der Vergangenheit lag der Schwerpunkt von Debatten über die Gefahren kommerzieller sozialer Medien auf Problemen des Datenschutzes und der Überwachung, besonders nach den Aufdeckungen durch Snowden 2013. Folglich haben viele technische Reaktionen,
insbesondere jene aus den FLOSS-Communitys, sich darauf konzentriert, Datenschutz durch Sicherheit herzustellen. Veranschaulicht wird das durch die auf Snowden folgende Verbreitung von spezialisierten Anwendungen zur sicheren, verschlüsselten Nachrichten- und Mailübertragung17. In diesen Communitys liegt die wahrgenommene Bedrohung darin, dass auf der Netzwerkebene Überwachung durch Regierungen oder Großunternehmen stattfinden kann. Die vorgeschlagenen Lösungen werden entsprechend als Werkzeuge wahrgenommen, die die Übertragung und den Inhalt von Nachrichten verschlüsseln und somit auf ideale Weise die Anonymität von Peer-to-Peer-Netzwerktopologien nutzen. Diese Ansätze können zwar gründlich funktionieren, erfordern dafür aber beachtliches technisches Wissen seitens der Nutzer*innen.
Das Fediverse bewegt sich also von einem vornehmlich technischen zu einem gesellschaftlicheren Verständnis von Datenschutz, wie in Diskussionen zum Issue- Tracking in den frühen Entwicklungsstufen von Mastodon deutlich wurde. Dort wurde ein Bedrohungsmodell diskutiert, das sich aus anderen Nutzer*innen des Netzwerks, zufälligen Verbindungen zwischen Accounts und der Dynamik von Online-Konversationen selbst zusammensetzt. Anstatt also technische Eigenschaften wie Peer-to-Peer-Topologien und End-to-End-Verschlüsselung in den Fokus zu nehmen, drehte sich die Entwicklung um robuste Moderationswerkzeuge, detaillierte Sichtbarkeitseinstellungen für Beiträge und die Sperrmöglichkeit gegen andere Instanzen.
Diese Funktionen, die einem gesellschaftlichen Verständnis von Datenschutz nachkommen, wurden von Menschen aus marginalisierten Communitys entwickelt und beworben. Viele von ihnen identifizieren sich als queer. Sarah Jamie Lewis merkt an:
„Ein Großteil der modernen Rhetorik rund um [...] Datenschutzwerkzeuge fokussiert auf staatliche Überwachung. In queeren Communitys gibt es aber auch das Bedürfnis, manche Dinge vor manchen Verwandten oder Freund*innen zu verbergen und zugleich Teile des Lebens mit anderen zu teilen. Freundschaften schließen, daten, missbräuchlichen Situationen entkommen, Gesundheitsversorgung erhalten, sich selbst und andere erkunden, Erwerbsarbeit finden, sichere Sexarbeit betreiben – all das können Aspekte queerer Leben sein, die von der modernen Datenschutzszene unbeachtet bleiben18.“
Für alle steht etwas auf dem Spiel, wenn es darum geht, wie sich die (unfreiwillige) Verbindung zwischen Online-Accounts – etwa zwischen Arbeitgeber*in und Arbeitnehmer*in – auf die Privatsphäre auswirkt. Doch marginalisierte Communitys sind von solchen Formen der Überwachung und ihren Konsequenzen unverhältnismäßig stark betroffen. Während der Entwicklung neuerer Fediverse-Plattformen wie Mastodon, an deren Aufbau Menschen aus solchen Communitys beteiligt waren, wurden solche Probleme daher auf die Agenda der Softwareentwicklung gebracht. So wurden Werkzeuge, die in der Entwicklung von FLOSS bislang dazu dienten, technische Fehler nachzuvollziehen und zu besprechen, plötzlich auch zu Diskursorten für gesellschaftliche, kulturelle und politische Fragen. Wir kommen hierauf im sechsten Abschnitt zurück.
Diese Diskurse wurden schließlich technisch umgesetzt: in server-weite Sperren, fortschrittlichere Moderationswerkzeuge, Inhaltswarnungen und verbesserte Barrierefreiheit. Dadurch können geografisch, kulturell und ideologisch verstreute Communitys gemeinsam dasselbe Netzwerk in ihrem je eigenen Sinne nutzen. Das Fediverse kann also als Gefüge aus verschiedenen Gemeinschaften verstanden werden, die sich jeweils um einen Server oder eine Instanz versammeln, um dort eine Umgebung zu schaffen, in der sich alle wohl fühlen. Wieder stellt dies einen dritten Weg dar: Es ist weder das Datenschutzmodell, in dem technisch versierte Personen die volle Kontrolle über ihre eigene Kommunikation innehaben, noch das Modell, in dem eine Mehrheit glaubt, „nichts zu verbergen“ zu haben, bloß weil sie in den Systemen, auf die sie angewiesen sind, keinerlei Mitsprache oder Kontrolle haben. Der Schritt hin zu einem gesellschaftlichen Verständnis von Datenschutz hat gezeigt, dass das Fediverse nun als Labor funktioniert, in dem Fragen der gesellschaftlichen Organisation und Regierung nicht länger als von Software getrennt dargestellt werden können.
Das Fediverse stellt also eine wichtige Verschiebung dar: Fragen der Überwachung und des Datenschutzes werden nicht länger als technische, sondern als gesellschaftliche Probleme verstanden. Doch hat der Fokus auf die gesellschaftlichen Aspekte des Datenschutzes bislang auch dazu geführt, viel Vertrauen in andere Server und Admins zu legen. Das kann zum Problem werden, da etwa direkte Nachrichten mit ihrer implizierten Privatheit viel besser mit technischen Lösungen, wie der End-to-End-Verschlüsselung gehandhabt werden könnten. Zudem scheinen viele der in der Fediverse-Software-Entwicklung gefundenen Lösungen auf dem Kollektiv zu beruhen statt auf dem Individuum. Das soll nicht bedeuten, dass hier technische Sicherheitsüberlegungen gar nicht berücksichtigt werden. Die üblichen Fediverse- Server setzen Datenschutz in ihren Standardeinstellungen hoch an, etwa durch erforderliche Übertragungsverschlüsselung und die Vermittlung von Fernabfragen über Proxys, um einzelne Nutzer*innen nicht preiszugeben. Doch diese Verschiebung hin zu einem gesellschaftlichen Verständnis von Datenschutz ist noch jung und muss auf vielen Ebenen weiter diskutiert werden.
5. Das Fediverse als Ausweg aus der Datenausbeutung und unbezahlten Arbeit
Kommerzielle Social-Media-Plattformen sind mit ihrem Fokus auf selbsterfüllende Kriterien und Gamifizierung dafür berüchtigt, unbezahlte Arbeit einzuholen, wo sie nur können. Welche Informationen auch immer in das System eingespeist werden – sie werden direkt oder indirekt genutzt, um Modelle, Berichte und neue Datensätze zu schaffen, die für die plattformbetreibenden Unternehmen einen zentralen wirtschaftlichen Wert haben: Willkommen in der Welt des Überwachungskapitalismus19.
Die Regulierung dieser Produkte und Dienste gestaltete sich bislang als extrem schwierig. Das lag zum Teil an der wirksamen Lobbyarbeit der plattformbetreibenden Unternehmen und ihrer Aktionär*innen. Ein Grund ist aber auch – und vielleicht ist er bedeutender – der abgeleitete Charakter der Monetarisierung, wie sie in kommerziellen sozialen Medien stattfindet. Diese Plattformen schlagen Kapital aus den zuweilen groben algorithmischen Nebenerzeugnissen der Aktivität und hochgeladenen Daten ihrer Nutzer*innen. Das erzeugt einen gewissen Abstand, der den Zusammenhang zwischen Online-Arbeit, von Nutzer*innen erzeugten Inhalten, Tracking und Monetarisierung immer schwieriger greifbar macht. Diese Distanz funktioniert effektiv auf zwei Weisen. Erstens verschleiert sie die genauen Mechaniken, die hier am Werk sind, was die Regulierung der Datenerfassung und -analyse erschwert. Die Plattformen haben dadurch die Möglichkeit, gewinnbringende Produkte zu entwickeln und dennoch die Datenschutzgesetze verschiedener Rechtssysteme zu befolgen. Sie können daher weiterhin ihren Dienst als datenschutzfreundlich bewerben. Letzteres wird oft dadurch verstärkt, dass Nutzer*innen allerlei Optionen erhalten, um sie fälschlicherweise glauben zu machen, sie hätten Kontrolle darüber, was sie der Maschine fütterten. Zweitens lassen diese Plattformen es so erscheinen, als würden keine persönlich identifizierbaren Daten zu Geld gemacht. Dadurch verstecken sie die wirtschaftliche Transaktion hinter anderen Arten der Transaktion, wie den persönlichen Interaktionen zwischen Nutzer*innen, beruflichen Möglichkeiten, von der Community selbst verwalteten Online-Gruppen und -Diskussionen und so weiter. Am Ende können die Nutzer*innen ihre soziale oder professionelle Aktivität nicht mit deren Ausbeutung in Verbindung bringen. Denn alles ist von anderen Transaktionen abgeleitet, die für unsere stets verbundenen Leben wesentlich geworden sind, insbesondere in Zeiten des „entreprecariat“20 und der quasi zwangsweisen Eingebundenheit in Netzwerke.
Wie wir hinsichtlich des gesellschaftlichen Verständnisses von digitalem Datenschutz in der Gestaltung von Mastodon sehen konnten, bietet das Fediverse eine erfrischende Herangehensweise an die Frage des Überwachungskapitalismus. Diskussionen über Nutzungsdaten und darüber, wie diese Probleme auf Ebene der Protokolle und in der Gestaltung graphischer Oberflächen angegangen werden, sind ziemlich transparent und offen. Sie finden öffentlich im Fediverse und auf anderen Issue-Tracking-Systemen für Softwareprojekte statt. Wenn neue Nutzer*innen auf einer Instanz willkommen geheißen werden, werden sie ausdrücklich von anderen Nutzer*innen oder ihren lokalen Admins darauf aufmerksam gemacht, auf welche Weise Daten zirkulieren. Diese Begrüßung umfasst üblicherweise Informationen darüber, wie Zusammenschlüsse funktionieren und wie das die Sichtbarkeit und den Zugang zu den von Nutzer*innen geteilten Daten beeinflusst21. Das erinnert an die von Robert Gehl beschriebenen Charakteristika von alternativen Social-Media-Plattformen: Sowohl das Netzwerk als auch sein Code haben eine pädagogische Funktion; sie zeigen, wie sie funktionieren und wie wir uns über die übliche Form der beschränkten Nutzungsberechtigungen hinaus bewegen können, um uns am Programmieren, Verwalten und Organisieren solcher Plattformen zu beteiligen. In diesem Sinne werden Nutzer*innen dazu ermutigt, auf andere Art aktiv zu werden, als bloß Beiträge zu posten und zu ‚liken‘. Und sie werden darüber aufgeklärt, auf welche Weisen ihre Daten weitergegeben werden.
Doch unabhängig davon, wie die Community einer Instanz organisiert ist, ermächtigt wird und aktiv an Plattform und Netzwerk teilnimmt – ganz zu schweigen von der Tatsache, dass der Einstieg ins Programmieren leichter gesagt als getan ist –, ist die stärkere Kontrolle über Daten nicht garantiert. Es bleibt möglich, von diesen Plattformen Informationen zu schürfen oder zu sammeln. Vielleicht ist es sogar leichter als bei kommerziellen sozialen Netzwerken, da diese andere aktiv daran hindern, ihren Datenspeicher zu nutzen. Aktuell ist es ziemlich einfach, durchs Fediverse zu crawlen und seine Nutzer*innen zu profilieren. Obwohl die meisten Fediverse-Plattformen sich selbst gegen Nutzer*innen-Tracking und Datenausbeutung aussprechen, können Dritte das dennoch tun, da das Fediverse als offenes Netzwerk funktioniert, das primär für öffentliche Beiträge gestaltet ist. Da bestimmte Interessen – insbesondere politische Diskussionen – tendenziell auf bestimmte Server konzentriert sind, sind aktivistische Communitys wohl eher den Geheimdiensten ausgesetzt. Das Fediverse unterstützt Nutzer*innen also dabei, zu verstehen oder sich wieder zu erinnern, dass alles, was sie online veröffentlichen, ihre Kontrolle verlassen kann und wird. Nach beinahe zwei Jahrzehnten der Fehlinformation zu digitalem Datenschutz in kommerziellen sozialen Medien kann jedoch auch das Fediverse nicht die andauernde Wirkung all der Gewohnheiten und des falschen Gefühls der Online-Sicherheit verhindern22.
Obwohl die Arbeit von Nutzer*innen nicht auf gleiche Weise ausgebeutet wird wie auf kommerziellen Plattformen, gibt es dennoch Probleme rund um das Thema Arbeit in diesem Netzwerk. Um diese Probleme zu verstehen, müssen wir erst den Schaden anerkennen, den kostenlos zu nutzende kommerzielle Social-Media-Plattformen einerseits und ein verbreitetes Missverständnis bezüglich FLOSS-Praktiken andererseits angerichtet haben: Fragen der Arbeit und Arbeitskämpfe in diesen Prozessen wurden verschleiert23. Diese Situation hat dazu geführt, dass Menschen glauben, Software-Produktion, Server- Instandhaltung und Online-Dienste sollten kostenlos verfügbar sein. Kommerzielle Social-Media-Plattformen können ihre Infrastruktur finanziell unterhalten, weil sie die Inhalte und Aktivitäten ihrer Nutzer*innen direkt und indirekt zu Geld machen. In einem System, in dem diese Monetarisierung vermieden wird, sie unmöglich ist oder sich ihr aktiv widersetzt wird, taucht das Problem der Arbeit und Ausbeutung dann auf der Ebene der Server-Administration und Software-Entwicklung auf und betrifft alle, die zur Gestaltung, Konzeption und Unterstützung dieser Infrastrukturen beitragen.
In Reaktion auf dieses Problem gibt es eine Tendenz im Fediverse, die Kosten des Betriebs eines Community-Servers ausdrücklich zu formulieren. Nutzer*innen und Administrator*innen rufen zu finanzieller Unterstützung der verschiedenen Projekte durch Spenden auf und erkennen somit an, dass die Produktion und der Betrieb dieser Plattformen Geld kostet. Prominentere Projekte wie Mastodon haben Zugang zu größeren Geldmitteln und haben ein System eingerichtet, durch das Beitragende für ihre Arbeit bezahlt werden können24. Diese Versuche, Arbeit zu entlohnen, sind gute Schritte. Doch wird es mehr strukturelle Unterstützung erfordern, sie weiter zu verbreiten und solche Projekte langfristig zu erhalten. Ohne eine substanzielle Finanzierung der fortwährenden Entwicklung und Instandhaltung werden diese Projekte darauf angewiesen bleiben, die unbezahlte Arbeit wohlmeinender Einzelpersonen auszubeuten, oder den Launen von Menschen unterworfen sein, die sich Zeit für ihr FLOSS-Hobby nehmen. Zugleich gibt es immer mehr Anerkennung und Präzedenzfälle, die es denkbar machen, dass FLOSS als Teil der öffentlichen Versorgung betrachtet wird und somit aus öffentlichen Geldern finanziert werden sollte25. In Zeiten, in denen die Regulierung kommerzieller sozialer Medien ansteht, weil sie öffentliche Institutionen untergraben, sollte der Mangel an staatlicher Unterstützung für nicht-räuberische Alternativen aktiver diskutiert werden.
Schließlich werden in manchen Fällen auch nicht-technische Tätigkeiten wie die Moderation von Fediverse-Communitys entlohnt. Das wirft die Frage auf, warum manche Formen der Arbeit vergütet werden und andere nicht, wenn es überhaupt eine Vergütung gibt. Was ist etwa mit der wichtigen frühen Arbeit der Sorge und Kritik durch Menschen aus marginalisierten Communitys, die sich dafür einsetzten, dass Fediverse-Projekte ein gesellschaftliches Verständnis von Datenschutz anwenden sollten? Zweifelsohne hat diese Arbeit dem Fediverse die Nutzer*innenzahl ermöglicht, die es heute hat. Wie kann solche Arbeit bemessen werden? Sie findet im ganzen Netzwerk statt, in Meta- Diskussionssträngen oder auf Issue-Trackern und ist somit schlechter quantifizierbar als Beiträge zur Programmierung. Während es also einige interessante Verschiebungen gibt, bleibt offen, ob Nutzer*innen und Entwickler*innen im Fediverse sich dieser Fragen ganz bewusst werden können; und ob ökonomische Modelle außerhalb des Überwachungskapitalismus gedeihen können, um nicht-ausbeuterische Solidarität und Fürsorge über den ganzen Stack hinweg zu unterstützen.
6. Das Fediverse als Aufstieg einer neuen Nutzungsweise
Das Fediverse kann als Vorbote einer Reihe von Praktiken verstanden werden – oder vielmehr von Erwartungen und Anforderungen an Social-Media-Software. Hier finden sich die verschiedenen Bemühungen alternativer Social-Media-Projekte zu einem gemeinsamen Netzwerk zusammen, das annähernd dieselben Ziele teilt. Den Servern sind vielfältige Nutzungsmodelle gemein. Sie reichen von risikokapitalgestützten rechten Plattformen bis zu japanischen Imageboard-Systemen, anarchokommunistischen Kollektiven, politischen Fraktionen, live programmierenden Algoraver*innen, „Schutzräumen“ für Sex-Arbeiter*innen, Gartenforen, persönlichen Blogs und Self-Hosting-Kooperativen. Diese Praktiken finden parallel zum Problem der Datenausbeutung und unbezahlten Arbeit statt. Sie gehören zur andauernden Veränderung der Rolle von Software-Nutzer*innen.
Die ersten Nutzer*innen von Software – oder von Computergeräten – waren ihre Programmier*innen. Sie waren es auch, die dann die Werkzeuge und Dokumentationen anderen zur Verfügung stellten, damit sie aktiv zur Entwicklung und Nutzung dieser Systeme beitragen konnten26. Ihre Rolle war so wichtig, dass die ersten Communitys gänzlich von Firmen aus der Hardware-Herstellung getragen wurden. Ein paar Jahrzehnte später – mit der gewachsenen Computerindustrie – hat sich die Vorstellung davon, was es heißt, Computer zu benutzen, völlig verändert: Nun gibt es gezähmte Konsument*innen, die nur sehr begrenzt zu den genutzten Systemen beitragen oder sie (jenseits von trivialen und kosmetischen Anpassungen) verändern können. Diese Situation trug dazu bei, dass FLOSS als Gegenpart zu proprietären kommerziellen Betriebssystemen für Privatcomputer seit den 1990er Jahren immer beliebter wurde, wobei besonders die frühen Konzepte der Freiheit von Nutzer*innen bestärkt wurden27. Mit dem Aufkommen des Web 2.0 veränderte sich die Situation wieder. Die kommunikative und allgegenwärtige Dimension der Software hinter kommerziellen Social- Media-Plattformen brachte die anbietenden Unternehmen dazu, ihren Nutzer*innen erstmals die Gelegenheit zu bieten, Feedback zu geben. Sie wollten ihr Produkt so ansprechender und relevanter für alltägliche Aktivitäten machen. Nutzer*innen können eigentlich sehr einfach Fehler melden, neue Funktionen vorschlagen oder die Kultur auf der Plattform mitgestalten: nämlich durch ihre Unterhaltungen und die von ihnen geteilten Inhalte. Twitter ist ein bekanntes Beispiel hierfür. Zentrale Funktionen wie das „@“ vor den Nutzer*innennamen und die „#“-Hashtags wurden zuerst von Nutzer*innen vorgeschlagen. Foren wie Reddit gestatten es Nutzer*innen, Unterforen zu moderieren und eigene spezifische Communitys zu gründen.
Auf alternativen Social-Media-Plattformen wie dem Fediverse – besonders in seinen frühen Tagen – gehen diese Formen der Partizipation noch einen Schritt weiter. Nutzer*innen melden nicht nur Fehler oder tragen zur Kultur des Produkts bei, sondern sie beteiligen sich auch an der Untersuchung des Codes, debattieren über seine Auswirkungen und programmieren selbst. Während das Fediverse größer wird und eine größere Vielfalt an Kulturen und Software-Stacks umfasst, wird auch das Verhalten seiner Nutzer*innen noch umfassender. Manche richten zusätzliche Knoten im Netzwerk ein und arbeiten an der Entwicklung maßgeschneiderter Verhaltensregeln und Nutzungsbedingungen, die die Durchsetzung der jeweiligen Community-Leitlinien für diesen Knoten unterstützen. Sie überlegen auch, wie diese Bemühungen durch eine community-eigene Finanzierung nachhaltig verankert werden könnten.
Allerdings werden nicht alle Forderungen nach Veränderung, einschließlich voll funktionsfähiger Code-Beiträge, von den Hauptentwickler*innen der Plattformen angenommen. Das liegt zum Teil daran, dass die größeren Fediverse-Plattformen von wohlüberlegten Standard- Einstellungen überzeugt sind, die für verschiedene Mehrheiten funktionieren. Sie wenden sich von dem archetypischen FLOSS-Modell ab, den Programmierer*innen umfassende Anpassungen und aufwändige Optionen zu bieten, die viele andere aber abschrecken. Dank der Verfügbarkeit des Quellcodes gibt es nichtsdestotrotz ein reichhaltiges Ökosystem an modifizierten Versionen von Projekten, die bestimmte Funktionen erweitern oder begrenzen und zugleich eine gewisse Kompatibilität mit dem größeren Netzwerk beibehalten. Aus Debatten über die Vorteile von Funktionen und die daraus hervorgehende modifizierte Software werden Diskussionen über die künftige Ausrichtung solcher Projekte, was wiederum zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für deren Steuerung führt.
Solche Entwicklungen sind selbstverständlich weder neu noch eine Eigenart des Fediverse. Die Unterstützung für die Menschen, die die Dienste im Fediverse anbieten, ähnelt beispielsweise der Unterstützung, die Autor*innen auf Streaming-Plattformen in Gaming- Communitys durch ihr Publikum erfahren. Es gibt auch in der breiteren FLOSS-Community immer wieder Forderungen nach einer besseren Steuerung von Software-Projekten. Die Entwicklung von Verhaltenskodizes (eines wesentlichen Dokuments, in dem Fediverse- Instanzen ihre Vision von Gemeinschaft und ihre Politiken darlegen) wurde in den frühen 2010er Jahren in verschiedenen anderen FLOSS-Zusammenhängen eingeführt – als Reaktion auf systematische Frauenfeindlichkeit und Ausschlüsse marginalisierter Gruppen aus FLOSS-Kontexten online wie offline28. Verhaltenskodizes dienen auch dem Bedarf nach Formen der Konfliktlösung über kulturelle und sprachliche Barrieren hinweg.
Auch sind viele der Moderations- und Verwaltungspraktiken in Fediverse-Communitys von Erfahrungen auf anderen Plattformen, vom Erfolg und Scheitern anderer Werkzeuge und Systeme, geprägt. Die Synthese und Koordination all dieser Praktiken ist im Fediverse zunehmend sichtbar geworden. Im Gegenzug haben Probleme und Herangehensweisen im Fediverse auch Präzedenzwirkung auf andere FLOSS-Projekte und ermutigen dort zu Veränderungen und Diskussionen, die bislang begrenzt oder schwierig anzuregen waren.
Angesichts der Vielfalt an Nutzungsmodellen ist selbstverständlich nicht das ganze Fediverse so ausgerichtet. Die oben beschriebenen Entwicklungen legen jedoch nahe, wie viele Nutzungsmodelle noch zu entdecken sind und inwiefern das Fediverse eine produktive Umgebung ist, um sie auszuprobieren. Die veränderliche Nutzungsweise im Fediverse zeigt, wie viele Möglichkeiten es zwischen den stereotypen Extremmodellen des Überwachungskapitalismus und dem selbstauferlegten Märtyrertum der unbezahlten Arbeit als Grundlage von Plattformen gibt. Das hat Auswirkungen auf die Rolle von Nutzer*innen im Zusammenhang sozialer Medien und für die Entwicklung der FLOSS-Kultur29.
7. Das Fediverse als das Ende von Freier/Libre und Open-Source- Software, wie wir sie kennen
Bislang blieb der Großteil der Diskussionen über FLOSS-Lizenzen in einem ermüdenden Vergleich zwischen dem Schwerpunkt freier Software auf Nutzungsethik und dem wirtschaftlich begründeten Open-Source-Ansatz gefangen30. Egal ob ethisch oder wirtschaftlich motiviert, haben freie Software und Open-Source-Software das Ideal gemein, dass ihre Position den geschlossenen und proprietären Produktionsformen überlegen ist. Doch in beiden Fällen wird der liberale Antrieb kaum hinterfragt, auf dem diese ethischen und ökonomischen Perspektiven beruhen. Er ist im Westlichen Kontext tief verwurzelt, wo in den letzten Jahrzehnten individuelle Freiheit im Sinne von Liberalismus und Libertarismus auf Kosten von Gleichheit und Versorgung bevorzugt wurde. Es ist ein entscheidender Schritt, diesen Antrieb zu hinterfragen. Denn so können Diskussionen über andere Möglichkeiten eröffnet werden, Quellcode zu schreiben, zu zirkulieren und zugänglich zu machen. Zudem würde das auch der Behauptung ein Ende setzen, diese Praktiken seien unpolitisch, universell oder neutral. Leider war es bislang schwierig, solche Diskussionen zu führen; und das lag nicht am Dogmatismus in den Agenden von sowohl freier als auch Open-Source-Software. Tatsächlich war diese Auseinandersetzung nicht denkbar, weil einer der wichtigsten Aspekte von FLOSS lautet, dass sie als prinzipiell nicht-diskriminierend gedacht wurden. Mit nicht- diskriminierend ist hier allerdings die FLOSS-Lizenzierung gemeint, die es allen für alle Zwecke gestattet, FLOSS-Quellcode zu benutzen.
Es gab einige Versuche, dieses Problem anzugehen, zum Beispiel auf Ebene der Lizenzierung – in Form diskriminierender Lizenzen, die arbeiter*inneneigene Produktionen schützen oder die Nutzung durch militärische oder Geheimdienste ausschließen31. Diese Bemühungen wurden aufgrund des nicht-diskriminierenden Grundsatzes von FLOSS und dem entsprechenden Diskurs negativ aufgenommen. Nicht einfacher wurde es durch das historische Hauptanliegen von FLOSS, die verbreitete Implementierung in Verwaltungs- und Bildungskontexten, professionellen und kommerziellen Zusammenhängen zu erreichen. Entpolitisierung erschien als Schlüssel, um dieses Ziel erreichen zu können. In jüngerer Zeit hat die Überzeugung oder Strategie der Entpolitisierung auf mehrere Weisen gelitten.
Erstens bedeutete der Aufstieg dieser neuen Nutzungsweise eine erneute Infragestellung der archetypischen Steuerungsmodelle von FLOSS-Projekten – etwa des Modells des wohltätigen Diktators. In der Folge wurden mehrere schon lange bestehende FLOSS- Projekte dazu gedrängt, Verantwortlichkeitsstrukturen aufzubauen und in community- orientierte Steuerungsformen wie Kooperativen oder Vereine zu wechseln. Zweitens werden Lizenzen tendenziell mit anderen Textdokumenten wie Urheberrechtsvereinbarungen, Nutzungsbedingungen und Verhaltenskodizes kombiniert. Diese Dokumente prägen die Community, sie machen die ideologische Ausrichtung deutlicher und versuchen, Missbrauch und Missverständnissen rund um vage Konzepte wie Offenheit, Transparenz und Freiheit vorzubeugen. Drittens fordert die starke politische Färbung von Quellcode das bestehende Verständnis von FLOSS heraus. Wie schon erwähnt, sind manche dieser Bemühungen von dem Wunsch getrieben, die auf kommerziellen Social-Media-Plattformen übliche Zensur und Kontrolle zu vermeiden. Andere wollen ausdrücklich Software zur antifaschistischen Nutzung entwickeln. Diese Bemühungen bestreiten nicht nur die Universalität und globale Nützlichkeit von großen, allgemeinen Social-Media-Plattformen, sondern sie hinterfragen auch die vermeintliche Universalität und Neutralität von Software. Das gilt insbesondere, wenn Software von politisch expliziten Bedingungen, Kodizes und Vereinbarungen ergänzt wird, die ihre Nutzer*innen und Entwickler*innen akzeptieren müssen.
Mit dieser relativ vielfältigen Anhänger*innenschaft von Nutzer*innen, Entwickler*innen, Agenden, Software und Ideologien, wird das Fediverse langsam zum relevantesten System für den Ausdruck neuer Formen der FLOSS-Kritik. Das Fediverse ist ein Ort geworden, wo traditionelle Konzepte von FLOSS auf Menschen treffen und von ihnen überarbeitet werden, die ihre Nutzung als Teil eines breiteren Zusammenhangs von Praktiken begreifen, die den Status quo herausfordern. Manchmal geschieht das auf nachdenkliche, diskursive Weise über mehrere Communitys hinweg, manchmal durch die Materialisierung von Experimenten und Projekten, die FLOSS – wie wir es kennen – direkt herausfordern. Das Fediverse ist zum weitläufigen Ort geworden, wo konstruktive Kritik an FLOSS und eine Sehnsucht nach deren Neuentwurf am lebendigsten sind. In ihrem gegenwärtigen Zustand fühlt sich die FLOSS- Kultur wie eine zusammengeflickte Sammlung unvereinbarer Stücke aus einer anderen Zeit an. Viele ihrer für selbstverständlich gehaltenen Charakteristiken müssen dringend neu bewertet werden. Wenn wir das unbedingt notwendige Sakrileg akzeptieren können, über freie Software ohne freie Software nachzudenken, dann wird sich noch herausstellen, womit sich die Leere, die ihre Abwesenheit hinterlässt, füllen lassen kann.
Übersetzung aus dem Englischen von Jen Theodor.
- 1. Siehe Geert Lovink, Sad by Design: On Platform Nihilism, London: Pluto Press, 2019.
- 2. In diesem Text benutzen wir „kommerzielle soziale Medien“ und „alternative soziale Medien“ im Sinne der Definitionen von Robert W. Gehl, „The Case for Alternative Social Media“, Social Media + Society 1.2 (22. September 2015), Link.
- 3. Danyl Strype, „A Brief History of the GNU Social Fediverse and ‚The Federation‘“, Disintermedia, 1.April 2017, Link. A.d.Ü. Zur Begriffsklärung im Deutschen siehe Wikipedia.
- 4. Für eine Auseinandersetzung mit #GamerGate und toxischen Technikkulturen, siehe Adrienne Massanari, „#Gamergate and The Fappening: How Reddit’s Algorithm, Governance, and Culture Support Toxic Technocultures“, New Media & Society 19.3 (2016): 329-346.
- 5. Wegen seiner verteilten Beschaffenheit ist es schwierig, genaue Zahlen zur Anzahl der Nutzer*innen zu erhalten, aber einige der Projekte versuchen das Netzwerk quantitativ zu bestimmen: The Federation; Fediverse Network; Mastodon Users, Bitcoin Hackers.
- 6. Für ein Beispiel einer solchen frühen Beziehung, siehe Michael Rossman, „Implications of Community Memory“, SIGCAS – Computers & Society 6.4 (1975): 7-10.
- 7. Aymeric Mansoux, „Surface Web Times“, MCD 69 (2013): 50-53.
- 8. Burcu Gültekin Punsmann, „What I learned from three months of Content Moderation for Facebook in Berlin“, SZ Magazin, 6. Januar 2018, Link. Deutsche Übersetzung: „Drei Monate Hölle“, SZ Magazin, 5. Januar 2018, Link
- 9. Für den Quellcode siehe Raddle; Postmill, „GitLab“; Voat; Voat, „GitLab“.
- 10. Gabriella Coleman, „The Political Agnosticism of Free and Open Source Software and the Inadvertent Politics of Contrast“, Anthropological Quarterly 77.3 (2004): 507-519.
- 11. Für eine genauere Diskussion der vielseitigen, ermöglichenden Aspekte des offenen Zugangs, aber auch einen Kommentar zur Nutzung dieser Offenheit als Aushängeschild, das über andere Probleme hinwegtäuscht, siehe Jeffrey Pomerantz und Robin Peek, „Fifty Shades of Open“, First Monday 21.5 (2016), Link.
- 12. Als Beispiel des Diskurses gegen die Teilung, siehe den Kommentar von Kaiser zum Blog-Eintrag von robek world („rw“), „Mastodon Social Is THE Twitter Alternative For...“, Robek World, 12. Januar 2017, Link.
- 13. Etwa zu der Zeit, als Gab zum Netzwerk hinzu kam, stiegen alle Fediverse-Statistiken um annähernd eine Million Nutzer*innen an. Diese Zahlen sind – wie alle Zahlen zur Fediverse-Nutzung – umstritten. Für mehr Kontext, siehe John Dougherty und Michael Edison Hayden, „‚No Way‘ Gab has 800,000 Users, Web Host Says“, Southern Poverty Law Center, 14. Februar 2019, Link, Link; sowie emsenn, Beitrag auf Mastodon, 10. August 2019, 04:51, Link.
- 14. Für eine umfassende Einführung in Mouffes Werk, siehe Chantal Mouffe, Agonistik – Die Welt politisch denken, übersetzt von Richard Barth, Berlin: Suhrkamp, 2014.
- 15. Andrew Torba, „Moving to the ActivityPub protocol as our base allows us to get into mobile App Stores without even having to submit and get approval of our own apps, whether Apple and Google like it or not“, Beitrag auf Gab, Link, letzter Zugriff im Mai 2019.
- 16. David Garcia, „The Revenge of Folk Politics“, transmediale/journal 1 (2018), Link.
- 17. hbsc & friends, „Have You Considered the Alternative?“, Homebrew Server Club, 9. März 2017, Link.
- 18. Sarah Jamie Lewis (Hg.), Queer Privacy: Essays From The Margin Of Society, Victoria, British Columbia: Lean Pub/Mascherari Press, 2017, S. 2.
- 19. Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, übersetzt von Bernhard Schmid, Berlin: Campus, 2018.
- 20. Silvio Lorusso, Entreprecariat – Everyone Is an Entrepreneur. Nobody Is Safe, Onomatopee: Eindhoven,2019. A.d.Ü. „Entreprecariat bezieht sich auf den wechselseitigen Einfluss eines unternehmerischen Regimes und der um sich greifenden Prekarität. Unternehmertum hat sich aus den streng unternehmerischen Berufen ausgebreitet und erfordert nun von gewöhnlichen Leuten, sich wie Unternehmer*innen zu verhalten.“ Silvio Lorusso, „Welcome to the Entreprecariat – Disrupting Precarization“, re:publica, Link. „Alle sind Unternehmer*innen. Niemand ist abgesichert. Entreprecariat ist ein Versuch, das Prekariat durch die Perspektive des Unternehmertums zu betrachten und die Dominanz dieser Perspektive vor dem Hintergrund der Prekarität zu verstehen.“ Silvio Lorusso, „Entreprecariat. About.“ Institute of Network Cultures, Link.
- 21. Für ein Beispiel einer regelmäßig zirkulierten von Nutzer*innen verfassten Einführung, siehe Noëlle Anthony, Joyeusenoelle/GuideToMastodon, 2019, Link.
- 22. Für eine fortwährende Untersuchung dieser Fragen siehe das Pervasive Labour Union Zine, Link.
- 23. Für eine sorgfältige Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld zwischen digitaler Arbeit, postdigitalen Communitys und Aktivismus – wenn auch im Kontext von Tumblr – siehe Cassius Adair und Lisa Nakamura, „The Digital Afterlives of This Bridge Called My Back: Woman of Color Feminism, Digital Labor, and Networked Pedagogy“, American Literature 89.2 (2017): 255-278.
- 24. „Mastodon“, Open Collective, Link.
- 25. Für Teile der Diskussion über die öffentliche Finanzierung freier Software sowie eine Analyse der frühenGesetzesentwürfe bezüglich des Zugangs zum Quellcode von Software, die mit öffentlichen Geldern bezahlt wurde, siehe Jesús M. González-Barahona, Joaquín Seoane Pascual und Gregorio Robles, Introduction to Free Software, Barcelona: Universitat Oberta de Catalunya, 2009.
- 26. Siehe beispielsweise Atsushi Akera, „Voluntarism and the Fruits of Collaboration: The IBM UserGroup, Share“, Technology and Culture 42.4 (2001): 710-736.
- 27. Sam Williams, Free as in Freedom: Richard Stallman’s Crusade for Free Software, Farnham: O’Reilly, 2002.
- 28. Femke Snelting, „Codes of Conduct: Transforming Shared Values into Daily Practice“, in Cornelia Sollfrank (Hg.) The Beautiful Warriors: Technofeminist Praxis in the 21st Century, Colchester: Minor Compositions, 2019, S. 57-72
- 29. Dušan Barok, Privatising Privacy: Trojan Horse in Free Open Source Distributed Social Platforms, Master-Arbeit, Networked Media, Piet Zwart Institute, Rotterdam, 2011.
- 30. Siehe den Mailwechsel zwischen Stallman Ghosh und Glott über die FLOSS-Umfrage, „Two Communities or Two Movements in One Community?“, in Rishab Aiyer Ghosh, Rüdiger Glott, Bernhard Krieger und Gregorio Robles, „Free/Libre and Open Source Software: Survey and Study“, FLOSS- Abschlussbericht, International Institute of Infonomics, University of Maastricht, Niederlande, 2002, Link.
- 31. Siehe beispielsweise Felix von Leitner, „Mon Jul 6 2015“, Fefes Blog, 6. Juli 2015, Link.